Darüber haben wir länger nachgedacht als über unsere Altersvorsorge...
Jawohl, es ist wieder so weit - Zeit für die Alben des Jahres!
Die Zeit des Jahres, in der die Köpfe unserer Musikredaktion ganz besonders rauchen. Denn viel Musik ist auf ihre ganz eigene Art und Weise fantastisch und eigentlich kaum zu vergleichen. Versuchen müssen wir es natürlich trotzdem. Deshalb hier unser Versuch, dem Musikjahr 2023 in irgendeiner Form gerecht zu werden.Die 12 Alben, die unserer Meinung nach das Jahr besonders geprägt haben.
- Sufjan Stevens - Javelin
- Jungle - Volcano
- Tristan Brusch - Am Wahn
- Arlo Parks - My Soft Machine
- Boygenius - The Record
- Queens of the Stone Age - In Times New Roman
- Lana Del Rey - Did You Know That There’s a Tunnel Under Ocean Blvd
- Genesis Owusu - Struggler
- Mitski - The Land Is Inhospitable And So Are We
- Roisin Murphy - The Universe
- Blur - The Ballad Of Darren
- Caroline Polachek - Desire, I Want To Turn Into You
Sufjan Stevens - Javelin
Traurig ist hier gar kein Ausdruck mehr: Während Sufjan am Album gearbeitet hat, starb die große Liebe seines Lebens. Kurz vor Release erkrankte er selbst schwer. Und dann kam Javelin auch noch am wahrscheinlich deprimierendsten Wochenende des Jahres raus. Unter diesen Umständen ist es fast schon ein Wunder, wie viel atemberaubende Schönheit und mitreißende Hoffnung das Album versprüht.
Javelin schafft es Sufjans Singer-Songwriter Brillanz mit seinen Experimenten der letzten Jahre zusammenzuführen und wird so zu seiner stärksten Platte seit Carrie & Lowell und dem wahrscheinlich besten Album des Jahres.
Jungle - Volcano
Sich selbst vornehm aus dem Rampenlicht in den Hintergrund zu schieben – klingt eigentlich wie das ziemliche Gegenteil von einem Vulkanausbruch. Aber genau das hatten J & T vor: Dieses Mal gab's weniger große zusammenhängende Konzepte und persönliche Geständnisse, dafür aber mehr Klangvielfalt, raffinierte Sounds und viele neue Stimmen am Mikrofon.
Volcano sollte impulsiv, spontan und auf keinen Fall verkopft klingen – eben irgendwie dann doch wie ein Vulkan, statt Lava spuckt der hier aber reine Tanzekstase.
Tristan Brusch - Am Wahn
Die Faszination für die Abgründe war ja sowieso schon immer da: Auf Am Wahn widmet sich Tristan Brusch jetzt auch noch den zwischenmenschlichen Katastrophen – auf Happy Endings braucht man sich hier also schonmal nicht einstellen. Hier wird sich aber nicht einfach nur liebeskrank ausgekotzt, sondern klug beobachtet und analysiert, warum die Liebe von der schönsten Sache der Welt zum (man entschuldige die Wortwahl) komplett beschissenen Desaster geworden ist.
Das, was hier passiert, ist nicht nur toxisch, das ist sogar schon hypertoxisch.
Arlo Parks - My Soft Machine
In einer Welt, in der scheinbar nur noch oberflächliche Stärke zählt, traut sich Arlo Parks schonungslos ehrlich über ihre Schwächen zu singen. Okay, so geschrieben liest sich das schon ordentlich kitschversifft, aber die Mercury Preisträgerin kann das eben tausendfach besser in Worte fassen. Ihre Texte klingen mal so nahbar wie ein nur fürs eigene Auge bestimmter Tagebucheintrag und dann wieder so verträumt wie ein ganzes Fantasy-Universum.
Zusammen mit einem Sound zwischen Trip Hop und zartem R&B wird My Soft Machine zu einem Album, das wahrscheinlich sogar Chat GPT die Freudentränen in die Augen treibt.
Boygenius - The Record
Die wahrscheinlich schönste Überraschung des Jahres – denn hier gab es so einige Fragezeichen. Erstmal war überhaupt nicht klar, ob Phoebe, Lucy und Julien sich überhaupt nochmal für eine ganze Platte zusammentun würden. Und auch wenn Supergroups aus eh schon besonderen Musiker*innen meistens große Hoffnungen erwecken, klingen sie halt manchmal leider auch so unnötig als hätte jemand Pfefferminzschnaps in seinen Gin Tonic geschüttet (...). Aber nein: The Record führt das, was das Superheldinnentrio auf ihrer EP angedeutet haben, eindrucksvoll zu Ende.
Eine emotionale Liebeserklärung an das Konzept Freundschaft, die gleichzeitig nach neuer Band, aber auch wie ein Best of von drei fantastischen Musikerinnen klingt.
Queens of the Stone Age - In Times New Roman
Ob Josh Homme wohl eine Wette verloren hat und als Strafe in jedem Songtitel ein Wortspiel unterbringen musste? Selbst wenn, wäre es eins der kleineren Probleme der letzten Jahre für ihn gewesen, zwischen Dornenkrieg mit der Mutter seiner Kinder, gesundheitlichen Problemen und genereller Zivilisationsuntergangsstimmung. Die komplette Frustentladung gibt es jetzt auf der neuen Queens Platte.
In Times New Roman klingt dabei vielleicht nicht ganz so vielseitig wie das letzte Meisterwerk …like Clockwork – aber es macht eben trotzdem so unfassbar gute Laune, wieder kompromisslosen Queens of The Stone Age Sound um die Ohren geschleudert zu bekommen.
Lana Del Rey - Did You Know That There’s a Tunnel Under Ocean Blvd
Wie macht sie das bloß? Lana Del Rey haut nicht nur in fast schon schwindelerregender Geschwindigkeit neue epische Alben raus – sie schafft es damit auch noch regelmäßig in alle Bestenlisten. Selbsterklärend dieses Jahr wieder, auch weil sie dieses Mal die ein oder andere Überraschung parat hat:
Natürlich reißt immer noch jeder Song ohne Widerrede in einen amerikanischen Schwarz Weiß Film, in dem alle fantastisch angezogen sind aber immer traurig durch die Gegend schauen. Aber dieses Mal lässt Lana Del Rey auch persönlichere Einblicke zu und fängt sogar an ihren eigene Kunstfigur neu zu erkunden. Da taucht man doch gerne wieder in die Noir-Melancholie ein.
Genesis Owusu - Struggler
Jetzt folgen wir einer Kakerlake auf ihrem Überlebenskampf in einer untergegangenen Welt, während der allmächtige Herrgott wie besessen hinter ihr her ist… Moment was?
Ja, Genesis Owusu hat wohl das fantasievollste Konzeptalbum des Jahres angerichtet. Dazu ist der Kakerlakentrip auch nach wahnsinnig abwechslungsreich und mitreißend wie ein Action Thriller: Beim hektischen Drum-Computer-Punk springt das Kopfkino automatisch an und zeigt, wie sich die Kakerlake wilde Verfolgungsjagden liefert - nur um dann bei erschöpften Soulklängen darüber grübeln muss ob das alles noch einen Sinn macht.
Wenn man mit Struggler fertig ist wünscht man sich regelrecht so widerstandsfähig zu sein wie der kleine Krabbler. Und den postapokalyptischen Verfolgungstrip macht man gerne noch ein paar mal mit.
Mitski – The Land Is Inhospitable And So Are We
Auch hier gab's eine schöne Überraschung: Mitski hatte ihre großartige Karriere eigentlich schon mehr oder weniger zu Grabe getragen, das letzte Album entstand schon mehr nur noch wegen vertraglichen Verpflichtungen. Jetzt hat sie aber wohl wieder Blut geleckt und entführt uns in die weite amerikanische Steppe. Wenn Mitski die Gitarre auspackt, fühlt man sich plötzlich wie zwischen Lagerfeuer und Büffelherden teleportiert, während sie wieder diese Zeilen singt, die kompromisslos ins Herz treffen.
Fast schon ungewöhnlich, dass ihre Texte dieses Mal dabei auch erstaunlich hoffnungsvoll klingen. Vielleicht auch ein Grund, warum sich Mitski wieder wohl mit ihrer eigenen Kunst fühlt.
Róisín Murphy - Hit Parade
"Ich bring dich zu Top of the Pops, ich bring dich in die Hitparade!" Mit diesem Versprechen bekam DJ Koze sie letztendlich rum – obwohl sie beide wussten, dass es völliger Blödsinn war. Die Hitparade gibt's schon längst nicht mehr, und Róisín Murphys neues Album ist wirklich kein seichter Chartstürmer geworden:
Zusammen mit der deutschen Produzentenlegende hat die Irin eine verträumt-funkige Discovision geschaffen, für die unsere Galaxie eigentlich viel zu klein ist.
Blur - The Ballad Of Darren
Der größte Unterschied zwischen Blur und Oasis? Wahrscheinlich der Größenwahn. Blur wussten nämlich ganz genau, dass ihr neuestes Album keine große genredefinierende Revolution werden musste: Damon, Graham, Alex und Dave haben einfach ohne sich groß zu verkopfen genau die Platte gemacht, die grade in ihnen gesteckt hat.
Voll mit Blur typischem Charme und Hitpotential, sowie genau der richtigen Dosis unpeinlicher Nostalgie zeigt The Ballad Of Darren, wie man als Rockband eben doch gut altern kann.
Caroline Polachek - Desire, I Want To Turn Into You
Reizüberflutung, Freiheit, Ruhe, Euphorie – ganz gerne auch mal alles gleichzeitig.
Desire, I Want To Turn Into You zündet erstmal ein ganzes Feuerwerk voller Gefühle, von denen man nie gedacht hätte sie fühlen zu können. Die frühere singende Hälfte von Chairlift beginnt auf jedem Song ihres zweiten Albums eine neue mystische Reise durch alienhafte Klangdimensionen. Scheinbar ziellos und überfordernd, aber doch so meisterhaft konstruiert, dass man immer wieder eingefangen wird. Wer sich traut, Carolines Stimme und dem fantastischen Sound zu folgen, muss sich zwar vielleicht fest anschnallen, bekommt aber das wahrscheinlich beste Album des Jahres.
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