Ein Übergriff beginnt nicht erst bei körperlicher Gewalt

Ein Übergriff beginnt nicht erst bei körperlicher Gewalt

Dr. Bettina Glöggler von Strong im Interview

Von  Gloria Grünwald (Interview) | Miriam Fischer (Artikel)
Queere Personen können ihre Identität oft nicht offen ausleben, weil es zu gefährlich ist – auch hier in Deutschland ist Queerfeindlichkeit für viele Alltag.


Warum ist die Dunkelziffer so hoch?

In Deutschland wurden registrierte Straftaten gegen queere Menschen bis 2019 lediglich in der Unterkategorie "gegen die sexuelle Orientierung gerichtete Straftaten" erfasst. Ab 2020 gab es dann zusätzlich die Kategorie "Geschlecht/Sexuelle Identität". Ein Problem dabei war allerdings, dass Angriffe mit den Motiven Frauenfeindlichkeit, Transfeindlichkeit und Queerfeindlichkeit zusammengefasst wurden, weswegen die Kategorie inzwischen "geschlechtsbezogene Diversität" heißt und nur transfeindliche Straftaten und Straftaten gegen non-binäre und intersexuelle Menschen einschließt.

Anhand dieser erfassten Daten lässt sich in Deutschland beobachten, dass die Straftaten gegen queere Menschen vermeintlich zunehmen:

In der Kategorie "Geschlechtsspezifische Diversität" stieg die Zahl der Straftaten 2022 im Vergleich zum Vorjahr von 340 auf 417, im Themenfeld der sexuellen Orientierung von 870 auf 1.005 Straftaten. Ein großer Teil des Anstiegs soll allerdings allein auf das Einführen des neuen Themenfelds zurückgeführt werden können. Außerdem gibt es immer mehr Beratungs- und Meldestellen, weswegen es auch mehr Anzeigen gibt, da so Hemmungen und Hürden sinken.

Aber nicht nur bei der Erfassung von Straftaten, sondern auch im Strafgesetz hat sich im letzten Jahr etwas getan: Durch die ausdrückliche Aufnahme "geschlechtsspezifischer" Motive sowie "gegen die sexuelle Orientierung gerichtete" Angriffe werden diese seit 2022 in Gerichtsverfahren eher strafverschärfend einbezogen und damit auch eher verurteilt. Trotzdem gibt es bei Übergriffen auf queere Personen immer noch eine extrem hohe Dunkelziffer, weswegen Statistiken nicht die Realität abbilden können, egal, wie spezifisch Straftaten erfasst werden.

Auch Dr. Bettina Glöggler sagt, dass es aus diesem Grund extrem schwer zu beurteilen ist, ob Übergriffe gegen queere Personen tatsächlich mehr werden. Sie arbeitet bei Strong!, einer staatlich geförderte Anlaufstelle für Unterstützung, Information und Beratung für Betroffene von queerer Gewalt. 
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  • Straftaten gegen queere Menschen
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Queerfeindlichkeit ist für viele Alltag

Aber unabhängig davon, ob die Zahl steigt oder nicht: Beratungsstellen und Hilfsangebote braucht es unbedingt. Denn Gewalterfahrungen sind für viele Personen aus der LGBTQIA* Alltag – im Durchschnitt werden in Deutschland jeden Tag drei queere Menschen Opfer von Angriffen. Und die beginnen nicht erst bei körperlicher Gewalt:
"Es geht ja nicht erst Gewalt los bei körperlicher Gewalt, auch psychische und verbale Gewalt sind zum einen auch Straftaten und auch psychische Belastungen oder haben einen Beratungsbedarf dann nach sich." - Dr. Bettina Glöggler 

Die Rede ist in diesem Zusammenhang auch von sogenannten Mikroaggressionen, von denen Trans- und nicht binäre Personen noch einmal ganz besonders stark betroffen sind, sagt Dr. Bettina Glöggler. Wenn wir mitbekommen, dass Personen angegriffen werden – egal ob aus Queerfeindlichkeit, Rassismus, Sexismus, Ableismus oder was auch immer – ist es immer ein gutes Signal, die Personen anzusprechen und ihnen zu signalisieren, dass man sieht, was gerade passiert und Hilfe anzubieten, erklärt sie. Das kann gleichzeitig auch die Täter*innen abschrecken und ihnen zeigen, dass ihr Verhalten nicht in Ordnung ist. 
"Auch das sollte man bedenken, dass wenn man nicht eingreift, dass es immer auch ein bisschen eine Legitimation ist für eben die angreifende Personen, dass die denken 'Na ja, [es] sagt niemand was, dann wird das schon so ok sein, wie ich das hier gerade so mache.'" - Dr. Bettina Glöggler 

Dr. Bettina Glöggler merkt allerdings auch an, dass sich schon ein bisschen ein Wandel beobachten lässt und die Thematik zunehmend ernst genommen wird.
"Aber wir merken schon auch, dass es vorangeht und dass wir diese Botschaft auch vermitteln können, dass Queerfeindlichkeit auch einfach wirklich ernst zu nehmen ist, auch in der Öffentlichkeit." - Dr. Bettina Glöggler 

Auch die Hilfsangebote werden mehr, Dr. Bettina Glöggler erzählt allerdings auch, dass es vor allem in ländlichen Gegenden noch viele Flächen gibt, an denen Anlaufstellen fehlt. Über dieses Problem haben wir auch mit Enrico Weiser von Queer in Niederbayern e. V. gesprochen, das Interview findest du hier: Bepöbelt, angespuckt, Kieferbruch: Homophobie in Bayern.



Strong! i
st ein bayernweites Projekt und bietet Unterstützung, Information und Beratung für alle lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans*, inter* und queeren Menschen, die Gewalt oder Diskriminierung erlebt haben. Das Bayerische Hilfe-Telefon erreicht man unter der Nummer 0800 00 112 03.

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