Das komplette Interview aus egoFM Reflex mit Jan von Hagen
Von Gloria Grünwald (Interview) | Miriam Fischer (Artikel)
Die Beschäftigten der sechs Universitätskliniken in NRW streiken bereits in der zehnten Woche. Dabei geht es ihnen um Entlastung, vor allem durch mehr Personal.
Jan von Hagen ist ver.di-Gewerkschaftssekretär des Landesbereich C Gesundheit, Soziale Dienste, Bildung und Wissenschaft in Nordrhein-Westfalen. Im Interview mit egoFM Gloria hat er über den Streik und die Arbeitsbedingungen in der Pflege gesprochen und erklärt, wie diese endlich verbessert werden können.
Jan von Hagen über den Pflegenotstand
Das komplette Interview aus egoFM Reflex
"Notruf NRW - Gemeinsam stark für Entlastung"
Unter diesem Motto streiken die Beschäftigten der Unikliniken in NRW seit zehn Wochen. Eine Einigung zwischen Gewerkschaften und den Kliniken, die dem Land NRW gehören, gibt es bisher aber noch keine. Die Streikenden sind entsprechend sauer und erschöpft, aufzuhören ist allerdings keine Option:
"Die Pflegekräfte, die Krankentransporter, [etc.], wissen, wie wichtig diese Auseinandersetzung ist, deswegen gibt es keine Bereitschaft, einfach aufzuhören, sondern weiter zu kämpfen für wirkliche Entlastung in den Krankenhäusern." - Jan von Hagen
Viele der Streikenden beschreiben Situationen, die exemplarisch für den Berufsalltag von so vielen stehen:
Die Beschäftigen der Uni-Kliniken in NRW sind seit mehr als 9 Wochen im Streik - und die Arbeitgeber bewegen sich nicht. Sie kämpfen für uns alle und brauchen unsere Solidarität. Im Video gebe ich das Protokoll einer Krankenschwester in der Notfall-Chirurgie wieder. #NotrufNRWpic.twitter.com/IcLpMowuo6
Dieser Personalmangel hat eine doppelte Auswirkung: Einerseits die Extrembelastung für die Beschäftigten, andererseits die Folgen für die Patient*innen. Die Pandemie hat diesen Zustand nur verstärkt:
"Ich glaube die gängige Formulierung der Streikenden momentan ist: Es war vor der Pandemie nicht wesentlich besser, sondern die Pandemie hat die Aufmerksamkeit ein bisschen darauf gelegt, aber der Personalmangel war vorher schon eklatant. [...] [Die Pandemie] hat es zugespitzt, aber die Kolleg*innen machen sehr deutlich, auch ohne die Pandemie wäre es notwendig gewesen, diesen Streik zu führen, um bessere Bedingungen hinzukriegen." - Jan von Hagen
Die Streikenden fordern vor allem drei Dinge:
In jedem Bereich muss festgelegt werden, wie viel Personal für welche Arbeit - und vor allem für wie viele Patient*innen - zuständig ist
Wenn aufgrund von Personalmangel, Krankheit oder ähnlichem diese festgelegte Anzahl nicht gewährt werden kann, muss es einen Belastungsausgleich in Form von Freizeit geben. "Wenn Belastung da ist, dann soll Entlastung folgen", sagt von Hagen
Die Ausbildungsbedingungen müssen verbessert werden. Denn momentan ist zu wenig Zeit, um Auszubildende anzuleiten, was dazu führt, dass viele Azubis und Azubinen überfordert und frustriert sind und gar nicht erst in dem Bereich anfangen zu arbeiten
Der Personalmangel existiert natürlich nicht nur in NRW, sondern in ganz Deutschland, das Stichwort heißt hier Pflegenotstand.
Dieser Mangel an Fachkräften wird in Deutschland seit Anfang der 2000er stetig größer und das, obwohl die Anzahl der Beschäftigten in der Pflege kontinuierlich steigt und sich in den letzten 20 Jahren sogar fast verdoppelt hat. Dieses Wachstum reicht allerdings nicht aus, um den steigenden Bedarf zu decken. Aktuell fehlen mindestens 200.000 Pflegekräfte in Krankenhäusern und Pflegeheimen, bis 2035 soll die Zahl auf knapp 500.000 steigen. Mehr dazu erfährst du hier im egoFM Reflexikon.
Um den Pflegenotstand zu stoppen hat die Politik auch Bonuszahlungen und eine Verbesserung der Situation versprochen, bisher ist aber noch nicht viel passiert, was tatsächlich auch bei den Krankenhausbeschäftigten angekommen wäre, sagt Jan von Hagen.
"Unser Gesundheitsminister in Nordrhein-Westfalen hat mal formuliert: Das Gesundheitswesen, der Krankenhausbereich, ist sicherlich das Feld, wo es die meisten großen Reformen in der Vergangenheit gegeben hat. Immer mit der Ankündigung "Jetzt wird es besser, wir machen das, damit es besser wird" und real stellen die Pflegekräfte und die Beschäftigten in den Krankenhäusern fest: Nach jeder dieser Reformen ist es vor Ort nicht besser geworden, sondern der Personalmangel hat noch mehr zugenommen." - Jan von Hagen
Aus diesem Grund herrscht erstmal eine große Skepsis gegenüber den Ankündigungen der Politik. Trotzdem muss gesagt werden, dass die Ampelkoalition auf Bundesebene am 7. Juli die Eckpunkte für die neue Personalregelung (PPR 2.0) auf den Weg gebracht hat, fügt von Hagen hinzu. So soll eine bedarfsgerechte Personalbemessung für die Pflege im Krankenhaus gewährleistet werden. Das ist mit Sicherheit ein erster Schritt, jetzt geht es allerdings darum, diese neue Regelung in die Einrichtungen zu bringen, damit nicht nur in der Theorie eine Verbesserung existiert, sagt er.
Wenn sich die Arbeitsbedingungen tatsächlich endlich verbessern, würden viele Pflegekräfte zurück in den Beruf kommen.
Das bestätigen zum Beispiel die Studien "Ich pflege wieder, wenn..." und #PflegeComeBack, zwischen 100.000 bis 200.000 Stellen könnten so wieder besetzt werden. Und einer Umfrage unter den Streikenden in NRW zufolge, würden 300 Teilzeitbeschäftigte bei besseren Bedingungen wieder auf 70 oder 80 Prozent aufstocken. Das alles sind Menschen, die sogar schon eingearbeitet sind, betont Jan von Hagen.
"Das heißt es ist nicht so, dass wir einen Fachkräftemangel haben, sondern wir haben eine Berufsflucht aus den Krankenhäusern und die kann man umdrehen mit besseren Arbeitsbedingungen." - Jan von Hagen
Seit dieser Woche gibt es konstruktive Verhandlungen mit den Arbeitgeber-Unternehmen und es wird über ein Entlastungsmodell für die Beschäftigten gesprochen. Jan von Hagen rechnet im Laufe der nächsten Woche mit einer Einigung. Bis das Ganze wirkt, wird es aber natürlich noch etwas dauern.
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