Herausforderungen und Aufgaben der NATO

Herausforderungen und Aufgaben der NATO

Sicherheitsexpertin Dr. Aylin Matlé im Interview

Muss Europa um die eigene Sicherheit besorgt sein, was würde es für die NATO bedeuten, wenn Trump wieder Präsident wird und welche Rolle spielt Deutschland bei all dem?


Die Bedeutung der NATO für Europas Sicherheit 

Vor 75 Jahren wurde die NATO gegründet, vor 69 Jahren ist Deutschland dem Militärbündnis beigetreten. Wie das Bündnis entstanden ist und was die Aufgabe der NATO ist, das erklären wir hier ausführlicher. Kurz zusammengefasst hat die NATO aber drei Kernaufgaben: Abschreckung und Verteidigung, Krisenprävention und -management und Kooperative Sicherheit. Seit dem russischen Angriffskrieg gegen Ukraine ist die NATO nun wieder so wichtig wie lange nicht mehr – und sie steht vor großen Aufgaben. Genau darüber sprechen wir mit Sicherheitsexpertin Dr. Aylin Matlé von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.

Das komplette Interview mit ihr kannst du hier anhören:
  • Dr. Aylin Matlé im Interview
    Das komplette Gespräch zum Anhören


Finnland und Schweden verstärken die NATO

Am 4. April 2023 wurde Finnland in die NATO aufgenommen, damals wurde von einem "geopolitical gamechanger" gesprochen. Ein Interview mit Sicherheits- und Verteidigungsexperte Stefan Scheller zu Finnlands NATO-Beitritt findest du hier. Knapp ein Jahr später, am 7. März 2024, ist auch Schweden offiziell beigetreten und damit das 32. Mitglied der NATO. 

Dr. Aylin Matlé hat uns erklärt, dass Schweden vorrangig zwei wichtige Dinge mit in die NATO bringt: erstens eine strategisch sehr wichtige Lage – insbesondere für die baltischen Mitgliedsstaaten – und zweitens hochentwickelte Streitkräfte. Schweden hat zwar nur ungefähr 14.000 aktive Soldat*innen, dafür aber eine hochmoderne U-Boot-Flotte, die insbesondere für den Einsatz in der Ostsee geeignet ist, was für einen Kriegsfall mit Russland von enormer Bedeutung wäre. 

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Gerade jetzt ist es wichtig, dass sich die Mitgliedsstaaten einig zeigen, betont Dr. Aylin Matlé:
"Das ist vor allen Dingen gegenüber Russland wichtig, Russland zu zeigen, dass dieses Bündnis geeint ist, dass es sich nicht entzweien lässt. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass die NATO 75 Jahre bestehen feiert und auch - und das ist auch nicht ganz unwichtig - vor dem Hintergrund, dass in diesem Jahr im Juli die NATO sich zu ihrem jährlichen Gipfeltreffen in Washington DC treffen wird, einem Mitgliedsland, das von enormer Bedeutung für die NATO ist." - Dr. Aylin Matlé 


Einfluss der US-Präsidentschaft auf die NATO

Die USA spielen eine extrem wichtige Rolle innerhalb der NATO, allerdings hat Trump schon 2018 damit gedroht, dass sich die USA aus dem Bündnis zurückziehen. Muss sich Europa also ernsthaft Sorgen machen, falls Trump tatsächlich wiedergewählt wird? Ja, Europa sollte sich Gedanken um die eigene Sicherheit machen, sagt Dr. Aylin Matlé, allerdings nicht nur bei einer erneuten Trump-Regierung, sondern auch im Falle von Bidens Wiederwahl. 
"Es würde mit einer zweiten Trump Regierung sicherlich sehr viel ungemütlicher für die Europäer werden im Vergleich zu einer zweiten Biden-Regierung. Allerdings, und da treffen sich beide politischen Lager in den USA, sie fordern - und auch zu recht - viel mehr Verantwortung, viel mehr Engagement von den europäischen NATO-Mitgliedern und das nicht erst seit Donald Trump, sondern, auch schon schon lange davor." - Dr. Aylin Matlé 

Schon Barack Obama hatte etwa die europäischen Mitgliedstaaten am Ende seiner Präsidentschaft als Trittbrettfahrer bezeichnet – das Ganze ist also kein neues Thema.
"Die Europäer müssen so oder so viel mehr unternehmen, nicht zuletzt auch deswegen, weil die Amerikaner - und da sind sich auch beide politischen Lager relativ einig - ihre strategische Priorität nicht mehr in Europa, sondern im Indopazifik sehen, wegen der immer stärker werdenden strategischen Rivalität zwischen den USA und China." - Dr. Aylin Matlé 


Übrigens: Wir haben vor Kurzem mit Nachrichtenredakteur Joe Remick darüber gesprochen, welche Themen die kommende US-Wahl bestimmen. Das Interview mit ihm findest du hier.


Europas wachsende Verantwortung innerhalb der NATO

Mehr Verantwortung und Engagement bedeutet zum Beispiel die Einhaltung des Zwei-Prozent-Ziels – denn eigentlich soll jedes NATO-Land zwei Prozent seiner Wirtschaftsleistung für das Militär ausgeben. Dieses Jahr schafft Deutschland das tatsächlich seit Langem, allerdings nur aufgrund eines Sondervolumens von 100 Milliarden Euro – das wird allerdings auch relativ schnell ausgegeben sein, spätestens Anfang 2028.
"Und dann wird es zwischen dem Soll- und Ist-Zustand eine Lücke von mindestens 25 Milliarden Euro geben. Es gibt Schätzungen, die sogar von bis zu 40 Milliarden Euro ausgehen. Und es gibt bisher noch keine tatsächlichen Finanzplanungen, die dieses Delta schließen könnten" - Dr. Aylin Matlé 

Olaf Scholz versichert zwar, dass das Zwei-Prozent-Ziel dauerhaft erreicht werden soll, die aktuelle mittelfristige Finanzplanung sieht bisher allerdings nicht vor, dass es zu Aufstockungen im Verteidigungshaushalt kommen wird, erklärt Dr. Aylin Matlé.

Die Rolle der NATO beim russischen Angriffskrieg

Die Mitgliedsstaaten der NATO müssen deutlicher aktiver werden, sagt Dr. Aylin Matlé ganz klar. Ukraine steht aktuell an einem kritischen Punkt, da ihr droht, die Munition auszugehen. Generalsekretär Jens Stoltenberg hatte Mitte März bei der Vorstellung des NATO-Jahresberichts gesagt, man habe die Kapazität, jetzt braucht es aber auch den politischen Willen, mehr an Ukraine zu liefern. Dr. Aylin Matlé stimmt ihm da zu:
"Am Ende des Tages sind es die Mitgliedstaaten, die Mittel und auch militärische Fähigkeiten zur Verfügung stellen, die dann an die Ukraine abgegeben werden können. [...] also auch wenn zugegebenermaßen viele europäische Mitgliedsstaaten schon am Limit sind und sehr viel abgegeben haben, könnten sie noch mehr aufbringen. [...] Ich würde da nicht nur auf die NATO schauen sondern auch auf die EU." - Dr. Aylin Matlé 

Die EU hat zwar kürzlich ihr Ziel verfehlt, innerhalb eines Jahres eine Million Geschosse an die Ukraine abzugeben, allerdings haben sie jetzt gut die Hälfte davon geliefert und wollen bis Ende des Jahres die geplante Million sogar übertreffen, merkt Dr. Aylin Matlé an.

Möglicher NATO-Beitritt der Ukraine

2022 hat die Ukraine einen NATO-Beitritt beantragt. Dazu gibt es geteilte Meinungen – die einen sehen in einem NATO-Beitritt der Ukraine ganz klar ein Zeichen der Stärke, andere hingegen eher eine Provokation Russland gegenüber. Dr. Aylin Matlé hat dazu eine ganz klare Meinung:
"Das ist überhaupt keine Provokation gegenüber Russland und ich finde, das ist ein Narrativ, dem man ganz klar entgegentreten muss. Der Provokateur ist einzig und allein Russland in diesem Fall und nicht die Ukraine und auch nicht die NATO."  - Dr. Aylin Matlé 

Ukraine hat das Recht, einen NATO-Mitgliedsantrag zu stellen – dem hat Russland in vielen Absichtserklärungen in der Vergangenheit auch zugestimmt. Verteidigungsminister Boris Pistorius sagte letztes Jahr beim Gipfeltreffen in Vilnius deswegen auch:
"Wir haben immer gesagt, dass die Zukunft der Ukraine in der NATO liegt – daran gibt es keinen Zweifel. Wir können nicht über die Mitgliedschaft sprechen, während der Krieg noch andauert. Wir müssen also abwarten und dann muss dies natürlich schnell geschehen. Gleichzeitig müssen jedoch einige Anforderungen erfüllt werden – das kann niemand hinterfragen." 


Ukraine soll also definitiv NATO-Mitglied werden, die Frage ist nur wann

Einen konkreten Plan gibt es bisher nicht. Dabei wäre es für Dr. Aylin Matlé definitiv ein Zeichen der Stärke und der Geschlossenheit, wenn sich auf dem kommenden Gipfel dieses Jahr in Washington DC alle 32 Mitgliedstaaten darauf einigen könnten, einen Zeitplan zu präsentieren. Dass das tatsächlich passiert, bezweifelt sie aber:
"Ich gehe aber nicht davon aus, dass es dazu kommen wird, weil es dafür noch zu viele, vor allem der mächtigen Staaten - nicht zuletzt die USA und Deutschland - gibt, die momentan noch sehr zögerlich sind und der Ukraine momentan nichts Konkretes anbieten wollen, solange sie sich noch in einem aktiven Krieg mit Russland befindet. Ich bleibe aber trotzdem dabei, es wäre ein gutes und wichtiges Signal der Ukraine, womöglich auch hinter verschlossenen Türen aufzuzeigen, was sie noch machen muss, was geschehen muss, dass sie dem Bündnis beitreten kann." - Dr. Aylin Matlé 

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