Genderneutrale Erziehung

Genderneutrale Erziehung

Für mehr Selbstbestimmtheit in Kinderzimmern

Von  Miriam Fischer
Sexismus, Homophobie und sexualisierte Gewalt beginnen oft durch stereotypische Geschlechterbilder, denen wir alle von Geburt an ausgesetzt sind. Eine Möglichkeit gegen diese Klischees anzukämpfen ist die genderneutrale Erziehung - die ist weitaus weniger radikal, als viele Menschen meinen.

Vermeintlich männliches Verhalten wird strikt von vermeintlich weiblichem Verhalten getrennt.

Jungs wird beigebracht, dass sie stark sein müssen und Mädchen lernen, dass sie sich um andere kümmern sollen. Diese Unterscheidung zieht sich häufig durch Kleidung, Spielsachen, Hobbys und Freund*innenkreis und prägt die Kinder und ihr späteres Verhalten enorm.

Ein moderner Gegenentwurf ist die genderneutrale Erziehung

Aber was ist das überhaupt?

Genderneutral, gendertolerant, geschlechtergerecht - es gibt viele verschiedene Begriffe, die letztlich eigentlich dasselbe beschreiben sollen: Im Mittelpunkt der Erziehung steht die freie Entfaltung der Kinder, abseits von Stereotypen. Allerdings gibt es verschiedene Formen der Umsetzung:

Manche Eltern behalten das biologische Geschlecht komplett für sich und entscheiden sich für einen geschlechtsneutralen Namen. Das ist in Deutschland allerdings nur in Kombination mit einem weiteren – eindeutig geschlechtszuweisenden – Vornamen möglich. In §262 der Dienstanweisung für Standesbeamte heißt es "Lässt ein Vorname Zweifel über das Geschlecht des Kindes aufkommen, so ist zu verlangen, dass dem Kinde ein weiterer, den Zweifel ausschließender Vorname beigelegt wird". Hierbei handelt es sich aber um eine Verwaltungsvorschrift ohne Gesetzescharakter.

Das zuständige Standesamt prüft den Namen außerdem auf Kindeswohl, welches zum Beispiel bei einem eindeutig männlichen Vornamen für ein weibliches Kind (und umgekehrt) gefährdet sei. Die einzige Ausnahme hierbei ist Maria.

Es gibt aber auch Eltern, die sich für einen gewöhnlichen Namen entscheiden und offen damit umgehen, welches biologische Geschlecht das Kind hat und trotzdem auf stereotypische Kleidung, Spielsachen und ähnliches verzichten. Egal wie stark genderneutrale Erziehung umgesetzt wird, geht es einfach darum, dass der Erziehungsstil unabhängig vom Geschlecht ist.

Das heißt nicht, dass eine möglichst neutrale Mitte gefunden wird, sondern dass sich das Kind frei entfalten kann - ohne die Grenzen, die durch Geschlechterklischees auferlegt werden.


Der Fokus liegt auf der Selbstbestimmung

Es geht bei genderneutraler Erziehung außerdem darum, dass Kinder selbstbestimmt und unabhängig von gesellschaftlichen Rollenbildern und Erwartungen aufwachsen und nicht darum, dass ein Junge auf keinen Fall blau tragen und mit Rittern spielen darf - wenn er das will, soll er das machen. Wenn er am nächsten Tag aber lieber einen Puppenwagen schiebt oder ein Kleid tragen will, ist das auch vollkommen okay und normal. Denn bei der genderneutralen Erziehung dürfen Kinder vorurteilsfrei verschiedene Geschlechterrollen ausprobieren. 

Kritiker*innen dieses Erziehungsstils werfen den Eltern Geschlechtsblindheit vor und behaupten, geschlechtsspezifische Unterschiede würden einfach ignoriert werden.

Natürlich ist es für Kinder wichtig, eine Geschlechtsidentität zu entwickeln. In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig, dass die Kinder den Unterschied zwischen sex (dem biologischen Geschlecht) und gender (dem sozialen Geschlecht) lernen. Genauso wichtig ist es aber zu wissen, dass das Geschlecht keine Einschränkungen mit sich bringt und niemand irgendwelchen Rollenbildern entsprechen muss. 

Genderneutrale Erziehung bedeutet also nicht, dass Jungen und Mädchen (und alle Personen dazwischen) als komplett gleich angesehen werden, sondern dass alle Menschen gleichberechtigt, ebenbürtig und nicht zuletzt individuell sind. 


In der Theorie klingt das Prinzip fantastisch, im Reallife ist es allerdings nicht ganz so einfach. Dort gibt es Geschlechtsdifferenzierungen und vor allem laute Kritiker*innen - aber es geht ja eben darum, Kinder so selbstbewusst großzuziehen, dass sie zum einen über den Kritiker*innen stehen können und zum anderen ihren Teil zu einer Welt mit weniger Vorurteilen und mehr Gleichberechtigung beitragen.



Biologie oder Sozialisation

Grundsätzlich steht die Frage im Raum, inwieweit Verhalten schon biologisch vorbestimmt ist - die ewige Diskussion Nature versus Nurture. Klar ist, dass sich die Gehirne von Mädchen und Jungen leicht unterschiedlich entwickeln. Pädagog*innen und Psycholog*innen sind sich aber auch einig, dass ein nicht gerade kleiner Teil anerzogen ist.

Es gibt Psycholog*innen die aktuell davon ausgehen, dass ein Kind erst mit ungefähr dreieinhalb Jahren einordnen kann, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist - trotzdem verhalten sich viele Kinder schon vorher "ihrer Rolle entsprechend".

Nach der These dieser Forscher*innen, ist dieses Verhalten also erlernt. Und dieses Lernen beginnt schon damit, dass Jungen von ihrer Umgebung oft als aufgeweckt und stark, Mädchen eher als zart und niedlich beschrieben werden. Auch welche Interessen gezielt gefördert und welche behindert werden, hat einen großen Einfluss auf die Entwicklung der Kinder.

Außerdem beobachten Kinder, wie sich Männer und Frauen in ihrem Umfeld verhalten und wie Bezugspersonen mit ihnen umgehen.



Genderneutrale Vorbilder

Ganz wichtig ist es bei der genderneutralen Erziehung, dass die Eltern die entsprechenden Werte auch vorleben. Kinder übernehmen (ob bewusst oder unbewusst, ob gewollt oder ungewollt) viel von den eigenen Eltern. Und selbst die aufgeklärtesten Eltern sind nicht frei von unbewussten Vorurteilen. Unser Alltag, unsere Werbung und unsere Medien sind geprägt von Stereotypen die sich in ihrer Fülle zu Denkmustern formen.

Diese Stereotypen helfen uns dabei, unsere Gedanken zu sortieren und Informationen schneller zu verarbeiten - sie führen aber auch dazu, dass Menschengruppen pauschalisiert und individuelle Eigenarten in den Hintergrund gerückt werden.


Wie schnell das auch unterbewusst passieren kann, zeigt dieses Video:



Genderneutrale Vorschulen in Skandinavien

Besonders in Skandinavien wird der genderneutrale Erziehungsstil immer beliebter. In Stockholm gibt es die Vorschule "Egalia", in der das geschlechtsneutrale Pronomen "hen" eingeführt wurde (eine Mischung aus "han" für er, und "hon" für sie). Anstatt von Jungen und Mädchen wird außerdem nur von "Freunden" geredet. Neben traditionellen Modellen werden den Kindern auch gleichgeschlechtliche Elternpaare und geschlechtsunabhängige Berufsprofile näher gebracht. In einer anderen Schule gibt es für Mädchen Kurse, in dem sie brüllen und Ritter spielen und für Jungen welche, in denen sie Mosaike legen und sich gegenseitig die Füße massieren.

Inwiefern es sinnig ist, explizit die Eigenschaften zu fördern, die vermeintlich dem anderen Geschlecht zugeordnet werden, ist schwierig zu beantworten. Prinzipiell spricht das eigentlich gegen den Ansatz, den Kindern die Entscheidungsfreiheit zu überlassen. Allerdings ist es ein guter Gegenimpuls zu dem, was Kinder durch Medien und Werbung mitbekommen und deswegen bestimmt nicht ganz sinnlos.

Eine Studie der schwedischen Uppsala Universität kommt zu dem Ergebnis, dass geschlechtsneutral erzogene Kinder signifikant weniger in geschlechtsspezifischen Stereotypen denken und sich aufgeschlossener für Kinder des anderen Geschlechts zeigten und auch lieber mit ihnen spielten.




Natürlich können Eltern nicht alles beeinflussen - Kindergarten, Schule, Freund*innen, Werbung, Bücher, Fernsehen und Filme prägen die Kinder auch.

Umso wichtiger ist es aber, dass Kinder von ihren Eltern beigebracht und vorgelebt bekommen, dass es keinen Unterschied zwischen Geschlechtern geben sollte und jedes Individuum so sein kann, wie es will. Genderneutrale Erziehung bedeutet letztlich: Selbstbestimmung für die Kinder.

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