Meinung: Social Media ist tot

Meinung: Social Media ist tot

...und vielleicht ist das auch besser so

Von  Anne Walzog
Facebook, Instagram, Twitter & Co. haben nicht nur sich, sondern auch unsere Gesellschaft über die Jahre stark verändert. Langsam fühlt es sich aber so an, als ob diese Form von sozialen Medien ein Verfallsdatum haben.


Disclaimer: Jaaaa, ich bin mir der Ironie bewusst, dass dieser Artikel nachher unter anderem auf Social Media landet.


Hassliebe digitales Zeitalter

Viele kennen sie noch - die Zeit vor dem Internet, vor Social Media, das Offline-Leben. Da war die Welt noch in Ordnung. Ok, Boomer. Natürlich hat dieser Blick durch die rosarote Brille auf eine Zeit ohne Social seinen Reiz. Und ja, irgendwie bin ich auch froh, dass ich das noch ein bisschen mitbekommen habe. Trotzdem hätte ich die ersten unbeholfenen Schritte mit ICQ, Last.FM & AOL-CDs nicht missen wollen. Mal abgesehen vom alleinigen Unterhaltungsfaktor, haben das Internet und Social Media extrem viel Potenzial und erleichtern uns allen den Zugang zu Wissen. Aber umso mehr wir in diese Technik reinwachsen, umso rosaner wird der Blick auf die Offline-Zeit davor. Irgendwas ist passiert, seit Tom der erste Freund in allen MySpace-Freundesliste war und dem Moment, als wir uns TikTok zum Beginn der Pandemie heruntergeladen haben. Social Media hat seinen Reiz verloren. Viele sehnen sich nach der (romantisierten) Zeit ohne W-Lan zurück. Und ich glaube, dass es die sozialen Netzwerke nicht mehr all zulange geben wird. Zumindest in der Form, wie wir sie heute kennen. 

AFK

Den sozialen Netzwerken laufen die Nutzer*innen weg.

Du bist ständig auf Insta unterwegs und kennst Leute, die sich erst jetzt ihren ersten Account erstellen? Fair enough. Trotzdem - soziale Netzwerke wie Instagram schrauben ständig weiter an ihren Features. Nicht unbedingt, damit du mehr Spaß hast, sondern um relevant zu bleiben und um ihre Nutzer*innen zu halten. Instagram hat im Vergleich zum Vorjahr beispielsweise elf Prozent seiner 16 bis 19-jährigen Nutzer*innen verloren. Auch in den anderen Altersklassen ist dieser Trend spürbar. Die größte Konkurrenz ist dabei laut Instagram-Chef Adam Mosseri YouTube und TikTok. Und wie will Instagram mit den beiden Plattformen mithalten? Indem sie dir mehr Content von Accounts zeigen, denen du nicht folgst, von denen der Algorithmus aber glaubt, dass sie dich interessieren. Außerdem soll mehr Fokus aufs Shopping in der App gelegt werden. So langsam streichen die sozialen Netzwerke das "Social" aus ihrem Namen und werden zu reinen Unterhaltungs- und Werbeplattformen. Und auch bei dem ach so gehyptem TikTok merkt man immer mehr, wie sich verkaufter Content auf die 4U-Seiten (den Feed) schleicht. Dass es bei den sozialen Netzwerken nur noch ums Kapital geht, hat allerdings gravierende Auswirkungen auf unsere Gesellschaft. Und schlussendlich wahrscheinlich auch auf unser Nutzerverhalten.



Kapitalismus: Like, follow, comment & subscribe

Social Media zerstört Gegenkulturen - rebellieren geht nur noch durch Account-Löschung?

In vielen westlichen Ländern war die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts geradezu durch Gegenkulturen und -bewegungen definiert. Ob nun in der Musik oder in anderen Communitys: Es gab immer Ströme, die sich gegen die Erwartungen des Establishments wandten. Counterculture ist wichtig, denn sie bringen uns in verschiedenen Bereichen des Lebens als Gesellschaft voran. Eines der prominentesten Beispiele der Vergangenheit ist die Hippie-Bewegung. Typische Ideale der Mittelschicht wie Wohlstand wurden infrage gestellt - stattdessen stand die Suche nach dem Sinn des Lebens im Vordergrund. Nonkonformität gibt's auch noch heute, richtig. Aber so wirklich gegen die vorherrschenden Ideen und Ideale kannst du nicht sein. Warum? Weil sich das Establishment krass in unserer Welt verankert hat, insbesondere im Netz. Der Mainstream und die Wirtschaft dahinter schaffen es mittlerweile ziemlich gut, alle Gegenkulturen zu verhindern, indem sie es absorbieren. Um das an einem konkreten Beispiel zu zeigen: Werte zum Selbstausdruck haben oft einen hohen Stellenwert bei diesen (vermeintlichen) Gegenkulturen.

"Ich steh zu mir so wie ich bin und ich steh für andere Menschen wie mich ein - in einer Welt, die das nicht unterstützt oder anerkennt."

Das ist im Zeitalter von Social Media ein ziemlicher Trugschluss. Denn genau Gegenkulturen sind mittlerweile zu einem wichtigen Wirtschaftsgut geworden. Nonkonformes Verhalten und Rebellion gegen vorherrschende Normen ist eigentlich nichts weiter als ein neue Art von Conent auf Social Media. Es bringt Reichweite, Klicks, Likes und letztlich auch Einnahmen für große wirtschaftliche Unternehmen. Oder um es einmal klipp und klar zu sagen:

Wenn du nicht für eine Plattform zahlen musst, um sie zu nutzen, bist du das Produkt, was hier verkauft wird.

Wenn du wirklich nicht Teil der Norm und des Establishments sein willst, dann tu etwas Außergewöhnliches und Besonderes und pack es NICHT ins Internet.

Ironischerweise ist das aktuell auch ein viel diskutiertes Thema in den sozialen Netzwerken:


@sietesays

#stitch @kierabreaugh I’ve wanted to say this for a min. Let’s see if it reaches the right people. #anticapitalism #revolution

♬ original sound - ✨777✨
 

Ein ziemlich pessimistisches Bild von Social Media


Es ist doch gut, wenn wichtige Themen wie der Kampf gegen Rassismus oder die Sichtbarkeit und Akzeptanz von LGBTQ+ auch bei der breiten Masse verbreitet werden, oder? Selbst wenn Unternehmen damit Geld verdienen und nicht hinter der Idee stehen? Wenn wir den Gedanken kurz ausblenden und wir uns einzig darüber freuen, dass die Message verbreitet wird - stimmt, dann funktioniert Social Media ganz gut. Zumindest auf den ersten Blick. Denn die Frage bleibt, was machen wir mit dieser Fülle an Infos und Ideen, die die Welt zu einem besseren Ort machen sollen? Können wir verlässliche Quellen von beispielsweise Fake News unterscheiden? 

Filter Bubbles, die nicht platzen

Wissenschaftler*innen sehen Social Media und wie wir damit kommunizieren, mittlerweile als Gefahr für die Menschheit an - und zwar so gefährlich wie die Klimakrise.

Social Media hat die Art und Weise, wie wir miteinander kommunizieren und uns informieren, in kurzer Zeit drastisch verändert. Der Klick auf einen Like-Button füttert einen Algorithmus, den wir nicht verstehen und leitet uns so gezielt zu bestimmten Informationen weiter, die wir nicht hinterfragen. Und das ist ziemlich gefährlich, wie diese Studie zeigt. Nach Ansicht der 17 Wissenschaftler*innen sollten wir die sozialen Netzwerke und ihre Auswirkungen auf unsere Gesellschaft genauso wie eine Krise sehen wie die Klimaveränderungen. Die Wissenschaftler*innen gehen dabei besonders auf unser mangelndes Verständnis für die Technik und unser aller Umgang damit ein. Denn die letzten Jahre haben gezeigt, dass das sowohl den wissenschaftlichen Fortschritt als auch die Demokratien auf der Welt gefährdet. Jüngste Beispiel Pandemie: Massenhafte Fehlinformationen zum Tragen von Masken oder zu Impfung sorgten laut den Wissenschaftler*innen dafür, dass wir es immer noch nicht geschafft haben, die Pandemie einzudämmen. Informationen sind zwar leicht zugänglich, aber wie sie verstanden werden und welche Infos überhaupt verbreitet werden, kann nicht kontrolliert werden. Sollten die sozialen Netzwerke jetzt Stasi-like gefiltert (damit meine ich nicht die Moderation) werden? Wenn wir ehrlich sind, werden sie das ja schon. Nicht du entscheidest, was du sehen willst und worüber du dich informieren willst, sondern Algorithmen.

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Da das Internet morgen nicht verschwinden wird, müssen wir von klein auf lernen, wie wir damit umgehen.


Algorithmisch gesteuerter Suche und klickbasierter Werbung haben einen großen Einfluss darauf, wie wir unsere Welt wahr nehmen und welche Informationen uns überhaupt ausgespielt werden. Nichts erreicht uns ungefiltert. Natürlich kannst du nicht das ganze Internet durchforsten, wenn du nur eine kurze Auskunft brauchst. Genau so wenig kann die Tagesschau in ihrer Sendung alle Themen behandeln, die gerade auf der Welt passieren. Aber die Wissenschaftler*innen haben festgestellt, dass wir gerade durch Social Media besonders anfällig geworden sind für die Verbreitung von Fehlinformationen und Desinformationen. Wir müssen lernen, diese als solche zu erkennen und selbst zu filtern. Wir dürfen Social Media nicht einfach blind vertrauen.



Social Media in der Zukunft?

Egal, wie sich der Fokus dieser "sozialen" Netzwerke in den kommenden Jahren verändert - für die ältere Generation, die in Social Media hineingewachsen ist und die hier und da ein ausgewähltes Highlight ihres Lebens teilt, werden die sozialen Medien wahrscheinlich immer eine Rolle spielen. Studien zu jüngeren Generationen zeigen aber, dass viele ihr Leben nicht mit der ganzen Welt, sondern nur mit einem ausgewählten Kreis teilen möchten. Kommunikation über Chats gibt es schon ewig. Aber langsam werden in einfachen, textbasierte Chats immer mehr Funktionen eingebaut, die die Notwendigkeit von Social Media in Frage stellen und gerade von jüngeren User*innen mehr genutzt werden (Beispiel Snapchat). Die Herkunft von Informationen ist hier leichter nachzuvollziehen, man geht anders miteinander um und man ist unabhängig von Algorithmen. Chats sind von ihrem Aufbau und ihren Inhalten her also logischerweise weitaus sozialer als die Plattformen. 

Was braucht es also, damit soziale Medien wieder sozial werden und keine reine Unterhaltungs- und Werbeplattform sind? 

Hier gibt es viele Ideen: Bezahlsystem, damit die Nutzer*innen das Netzwerk selbst tragen und Troll-Accounts vermieden werden, verschiedene Feeds die Inhalte strikt trennen (einen Feed nur für soziale Interaktionen mit Menschen, denen du beispielsweise folgst, einen Feed zur Unterhaltung, einen Feed mit Nachrichten von verifizierten Quellen), ... Ideen gibt es viele, die Ziele sind immer gleich: Eine transparente, demokratische Plattform, die die Privatsphäre der Nutzer*innen und ihrer Daten gewährleistet. Damit das funktioniert, muss natürlich ein kleiner Hype passieren und es müssen sich viele Menschen für diese Idee begeistern. Nicht so leicht, aber wer weiß, was die Zukunft noch bringt...

...womit ich wieder zur Hassliebe komme.


Nach diesem kleinen Rant auf Social Media bleibt für mich aber eines trotzdem: die Faszination. Es gibt kaum ein Medium, auf das die ganze Welt zugreifen kann, dass sich ständig so viel verändert und einen so enormen Einfluss auf unser aller Leben hat. Und dafür bin ich einfach viel zu neugierig, um komplett offline zugehen.

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