Italien ist seit Jahrzehnten von politischer Instabilität geprägt und im September stehen - nicht das erste Mal - vorgezogene Neuwahlen an.
Roman Maruhn ist Politikwissenschaftler und Journalist und arbeitet aktuell am Kulturprogramm des Goethe-Instituts Palermo und ist dort außerdem Assistent der Institutsleitung. Im Interview ordnet er die aktuellen politischen Geschehnisse in Italien ein.
Der Rücktritt von Mario Draghi
Das Draghi-Kabinett war eine sogenannte Techniker-Regierung (Governo tecnico), das heißt, sie wurde nicht gewählt, sondern entstand, um für das Gemeinwohl zu sichern und für staatliche Stabilität nach politischen Krisen zu sorgen, in diesem Fall 2021, nachdem Giuseppe Conte sein Amt niedergelegt hat. Eine Techniker-Regierung entzieht den Parteien quasi den Wettbewerb und eine Person, die über jeden Zweifel und jede Parteibindung erhaben ist, wird Premierminister*in.
"Jetzt hat man eben [im Februar 2021] Mario Draghi genommen, einen besseren Kandidaten kann es eigentlich nicht geben und deshalb war es eigentlich die letzte Hoffnung und es ist eigentlich schade, dass er es nicht geschafft hat, bis zum Ende der normalen Legislaturperiode [März 2023] durchzuhalten." - Roman Maruhn
Im Juli boykottierten Senator*innen dreier wichtiger Parteien (die Fünf-Sterne-Bewegung, die rechte Lega Matteo Salvinis und Silvio Berlusconis Forza Italia) das Vertrauensvotum gegenüber Draghi, hauptsächlich, um ihre eigene Position im politischen Parteiensystem zu verbessern. Draghi ist entsprechend zurückgetreten, woraufhin Präsident Mattarella die Auflösung des Parlaments verfügt hat. Am 25. September kommt es deswegen - nicht das erste Mal in der jüngsten politischen Geschichte Italiens - zu vorgezogenen Neuwahlen. Bis dahin bleibt Draghi geschäftsführend im Amt.
Roman Maruhn über das politische System Italiens
Das komplette Interview zum Anhören
Ein schwieriger Wahlkampf
Die Parteien haben nur sehr wenig Zeit (nur knapp zwei Monate), um Wahlkampf zu betreiben. Noch dazu fallen diese Wochen genau in die Urlaubszeit vieler Italiener*innen.
"Und wo müssen sie den Wahlkampf machen? Sie müssen ihn an den Stränden in den Urlaubsorten machen, sie müssen ihn in einer Situation machen, in der die Bürgerinnen und Bürger sich eigentlich entspannen wollen und sich nach viel Stress, der Inflation die wir haben, erholen wollten und eigentlich von Parteien, Parteipolitik, nichts mehr hören wollten und auch nicht die Gesichter der Parteiführer sehen wollten." - Roman Maruhn
Das Draghi-Kabinett war bereits die 67. Regierung seit Ende des Zweiten Weltkriegs...
...und die dritte innerhalb nur einer Legislaturperiode. Immer wieder wird deswegen auch über das politische System Italiens und dessen Probleme diskutiert. Der sogenannte perfekte Bikameralismus besteht aus zwei Parlamentskammern, die ungefähr die gleichen Aufgaben haben. Es steht deswegen schon länger die Forderung im Raum, dass sich die Aufgaben der Kammern mehr unterscheiden müssten oder eine der beiden Kammern abgeschafft werden sollte. Hinzu kommt ein weiteres Problem: Einige Parteien in Italien haben ein größeres Interesse an der persönlichen Zustimmung in der Bevölkerung als an der Umsetzung von Politik und als am nationalen Interesse, sagt Maruhn. Die Parteien sind außerdem extrem personalisiert.
"Da ist es manchen Parteiführern eigentlich ziemlich egal, was der eigenen Partei passiert, sondern sie stellen ihr persönliches Interesse und ihr politisches Leben eigentlich selbst über das Interesse der Partei, wenn nicht sogar eben auch des ganzen Landes." - Roman Maruhn
In Italien existieren (mehr oder weniger) zwei Lager, die grundsätzlich sehr verschiedene Gedanken über und für das Land haben: ein Mitte-Rechts-Lager und ein Mitte-Links-Lager. Gerade das Mitte-Rechts-Lager ist sehr fokussiert auf die Führungsfiguren, weswegen beispielsweise auch Berlusconi immer noch eine Rolle in der italienischen Politiklandschaft spielt. In dieser Konzentration auf Führungspersönlichkeiten spiegelt sich auch die Sehnsucht des Mitte-Rechts-Lagers nach einem präsidentiellen System. Dementsprechend ist der Wahlkampf unter Umständen auch eine Entscheidung über das italienische Regierungssystem, also darüber, ob es weiterhin ein parlamentarisches oder eben in Zukunft ein präsidentielles System in Italien gibt.
Reaktionen der italienischen Bevölkerung
Innerhalb der Bevölkerung herrscht inzwischen viel Misstrauen, Enttäuschung und Frust gegenüber der Politik und der Parteien. Das äußert sich einerseits in illoyalem Verhalten wie zum Beispiel Steuerhinterziehung oder Schwarzarbeit, was riesige Probleme in Italien sind, führt andererseits aber auch zu neuen, revolutionären politischen Formationen, erklärt Roman Maruhn.
Bleiben die großen Probleme bei all dem auf der Strecke?
Eigentlich müssten viele größere Probleme angegangen werden, die teils aufgrund der großen Instabilität und der wiederkehrenden politischen Krisen immer wieder in den Hintergrund geraten.
"Da sind eben dann Techniker-Regierungen gefragt, von denen man dann irgendwie verlangt, dass in sechs Monaten oder in einem Jahr oder in anderthalb Jahren alles gemacht wird, was in den letzten zehn, fünfzehn Jahren nicht gemacht worden ist." - Roman Maruhn
Die Herausforderungen sind allerdings wirklich groß: Italien ist ein sehr langes, sehr schmales Land, es ist extrem bergig, es gibt viele Erdbeben und es gibt Vulkane. Auch Erosion und Wasserversorgung sind zwei große Probleme in Italien. Da wartet man schon oft auf eine Reaktion der Regierung, sagt Roman Maruhn. Es hängt allerdings nicht alles an der nationalen Regierung in Rom, so der Politikwissenschaftler und Journalist. Vieles wird auch in Gemeinden, Städten oder Regionen in Angriff genommen, außerdem ist Italien Teil der EU, von deren Modernisierungen das Land profitiert, gleichzeitig kann die italienische Regierung aber auch die Verantwortung bei unbeliebten Entscheidungen auslagern.
Trotz der vielen Krisen ist Italien politisch in einigen Punkten auch durchaus vorbildlich:
Viele Aktionen der Regierung Draghi wurden sehr schnell umgesetzt: Es wurden beispielsweise während Corona Gelder mobilisiert, als Reaktion auf die hohen Spritpreise wurde die Benzinsteuer abgeschafft und auch Hilfspakete für Bürger*innen wurden schnell umgesetzt. Umso enttäuschter und frustrierter sind deswegen auch die Reaktionen in der Wirtschaft auf das Ende der Draghi-Regierung.
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