Ein Klavier macht blaue Töne und der Mittwoch schmeckt nach Apfel – für Menschen mit Synästhesie kann das ganz normal sein.
Was ist Synästhesie?
Bei Menschen mit Synästhesie vermischen sich mehrere Sinneswahrnehmungen. Sie können zum Beispiel Töne schmecken oder riechen oder Buchstaben und Zahlen vor dem inneren Auge in bestimmten Farben sehen. Grund dafür sind neuronale Verknüpfungen im Gehirn, Synästhesie ist deswegen auch in den aller meisten Fälle angeboren und fällt unter Neurodivergenz. Etwa vier Prozent der Bevölkerung weisen eine oder mehrere Formen von Synästhesie auf. Insgesamt gibt es mindestens 75 verschiedene Arten, Maike Preißing hat ungefähr zehn davon. Sie ist Psychologin und klärt auf Social Media und in ihrem Podcast Let's talk Synaesthesia über das Thema auf. Im Interview erzählt sie uns, wie sie die Welt um sie herum wahrnimmt und wie die Synästhesie ihr Leben beeinflusst.
Das komplette Gespräch mit ihr kannst du hier anhören:
Maike Preißing im Interview
Das komplette Gespräch zum Anhören
Die bunte Welt der Synästhesie
Maike hat unter anderem die Graphem-Farb-Synästhesie, das heißt, alle Buchstaben, Zahlen und Wörter haben für sie eine Farbe oder einen Farbcode. Das hat ihre Mutter schon festgestellt, als sie ungefähr sieben Jahre alt war.
"Wenn ich ein Buch lese, sind die Zahlen auf dem Papier farbig, die haben wie so einen farbigen Schleier obendrauf." - Maike Preißing
Lange dachte Maike, alle Menschen nehmen die Welt so wahr wie sie. Dass sie auch noch weitere Arten der Synästhesie hat, hat sie erst mit Anfang 20 herausgefunden.Wenn Maike etwas hört, sieht sie zum Beispiel immer gleichzeitig auch dynamische Farbformen vor ihrem inneren Auge – das kann man sich ähnlich vorstellen, wie die Visualizer früher beim Windows Media Player, erklärt sie.
"Und das Gleiche ist es eigentlich auch für ganz viele andere Sinneswahrnehmungen, zum Beispiel Gerüche, Schmerzen, Berührungen, all diese Sinneserlebnisse haben eigentlich für mich immer noch eine visuelle Komponente, die ich automatisch in dem Moment, wo es passiert, sehe und auch recht gut erinnern kann." - Maike Preißing
Außerdem hat sie Ticker-Tape-Synästhesie, das heißt, sie sieht Untertitel. Die sehen sogar unterschiedlich aus: je nachdem, ob beispielsweise, sächsisch, schwäbisch oder bairisch gesprochen wird, verändert sich die Schriftart, manchmal sind es Großbuchstaben, manchmal Kleinbuchstaben – die Farben der Worte allerdings werden immer beeinflusst von der Graphem-Farb-Synästhesie.
Auch Molly hat Synästhesie. Sie hat uns im Interview erzählt, dass die Musik von Bilderbuch für sie nach Pappe schmeckt.
Zwischen Reizüberflutung und Kreativität
Maike ist ziemlich reizsensibel und hat beim Reisen auf jeden Fall immer ihre Noise-Cancelling-Kopfhörer dabei. Wenn man diese potenzielle Reizüberflutung aber mal beiseitelässt, ist Zugfahren zum Beispiel für sie aber ziemlich unterhaltsam, erzählt sie:
"Es ist natürlich ziemlich cool, wenn man im Zug sitzt und sich denkt, wie sieht denn das Parfüm aus von meinem Nebensitzer oder die Geräusche im Zug, diese ganzen Pieps-Geräusche, die sehe ich halt natürlich in der Sekunde wie sie passieren und da hat man eigentlich schon einfach ziemlich viel zum Schauen. Also es ist keine schlechte Unterhaltung, aber eben - und das ist mir einfach auch ein Anliegen - Synästhesie kann auch zu viel sein." - Maike Preißing
Denn es gibt auch Synästhesieformen und Umstände, die kein gutes Match sind, betont Maike. Wenn Menschen zum Beispiel Stimmen schmecken, kann das eine große Belastung sein und definitiv Auswirkungen darauf haben, wie man sein Leben führt. Eine andere Form, die Betroffene sehr belasten kann, ist Mirror Pain, das heißt Menschen fühlen Schmerzen von anderen, als wären es ihre eigenen.
"[Mirror Pain ist eine Form], wo man die die Berührung oder den Schmerz, den man in einer anderen Person beobachtet, im eigenen Körper spürt, [...] weil das eigene Gehirn keine Unterscheidung trifft zwischen dieser Schmerz passiert jetzt gerade dir und deinem Körper und nicht mir." - Maike Preißing
Solche Einschränkungen hat Maike nicht in diesem Maß.
"Ich würde sagen, meine Synästhesie belastet mich persönlich nicht, aber in Kombination mit diesen anderen neurodivergenten Eigenschaften und dass ich so reizoffen und -sensibel bin auf meine Umwelt, ist es schon einfach viel, also ich muss einfach anerkennen, dass mein Gehirn pro Tag mehr produziert und mehr zu verarbeiten hat und das macht mich natürlich ziemlich müde und ich genieße bestimmt andere Sachen nicht so, die andere vielleicht gerne machen, auf Konzerte gehen oder so." - Maike Preißing
Gleichzeitig sind Menschen mit Synästhesie häufig auch besonders kreativ
Einige bekannte Artists wie Billie Eilish oder Lady Gaga haben zum Beispiel Synästhesie. Lady Gaga spricht auch ganz offen darüber, dass es ihrer Kreativität hilft, Dinge nicht nur mit einem, sondern mehreren Sinnen wahrzunehmen. So geht's auch Maike – sie macht Kunst, die von ihrer Synästhesie inspiriert ist:
"Ich muss nur meine Augen zumachen und hab eigentlich schon endlose Kunstinspirationen, genau. Also ich hab mal ein Kunstwerk gemacht über das Geräusch vom Schnarchen, ein anderes war [über] Regelschmerzen. Also dadurch, dass ich die Sachen einfach automatisch sehe im Moment, wo sie passieren und ich ein recht gutes visuelles Gedächtnis hab, kann ich mir die Sachen einfach einprägen, merken und wenn ich dann Zeit hab, setz ich mich an meinen Laptop und reproduzier's." - Maike Preißing
Aber die Synästhesie hilft Maike nicht nur bei ihrer Kreativität, sondern auch bei ihrem Gedächtnis. Aufgrund ihrer Graphem-Farb-Synästhesie kann sie sich Namen, Telefonnummern, PIN-Codes und Ähnliches sehr gut merken. Wenn du noch mehr über Synästhesie erfahren willst, kannst du in Maikes Podcast reinhören und ihr auf Instagram und TikTok folgen.
Artikel teilen: