Nostalgie: Die Sehnsucht nach früher

Nostalgie: Die Sehnsucht nach früher

Tobias Becker im Interview

Früher war alles besser! Oder? Was hinter unserer Faszination für Altes steckt und inwiefern Nostalgie Potenzial für die Gegenwart und Zukunft hat, verrät Tobias Becker.

Die Macht der Nostalgie

Tobias Becker ist Geschichtswissenschaftler und arbeitet unter anderem am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Seit einigen Jahren beschäftigt er sich mit dem Thema Nostalgie, auch in Zusammenhang mit popkulturellen Phänomenen wie Retro-Trends oder Revivals. Im Interview gibt er uns reichlich Einblicke in die Vergangenheitssehnsucht.
  • Nostalgie: Die Sehnsucht nach früher
    Tobias Becker im Interview mit Sebastian
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Foto: Tobias Becker

Tobias Beckers Faszination für Nostalgie kam bei einer Reise durch Großbritannien auf. Beim Ansehen von alten Dampfeisenbahnen und kleinen Museen tat sich ihm immer wieder der Begriff Nostalgie auf, bis ihn ein Freund darauf aufmerksam machte, dass Nostalgie erstens nichts Neues ist und zweitens eine Doppeldeutigkeit hat. In seinem Habilitationsprojekt setzt er sich genauer damit auseinander.

Aus Heimweh wird Sehnsucht nach Früher

Ursprünglich, erklärt Tobias, kommt der Begriff aus der frühen Neuzeit. Im Jahr 1688 schrieb der junge Doktor Johannes Hofer seine medizinische Doktorarbeit über Heimweh und verwendete hierfür das Wort "Nostalgia". Damals war man noch in dem Glauben, dass es eine medizinische Krankheit war, die auch organische Veränderungen verursachen konnte. Erst im 20. Jahrhundert löste man sich von dieser Bedeutung. Nostalgie fand ihren Eingang in die Umgangssprache, die Bedeutung veränderte sich und wurde zu dem, was wir heute unter ihr verstehen:
"Vor allem in den 60er 70er [kam es], dass dieser Begriff allgemein eingeführt wird als Gefühl. Als Sehnsucht nach Vergangenheit nach einem Früher, das oft sehr unbestimmt und ungenau ist." – Tobias Becker


Orientierung und Vertrauen statt Angst vor der Zukunft

Unser eigenes Leben führen wir, ohne genau zu wissen, was passiert, schließlich stehen scheinbar alle Möglichkeiten offen. Wenn wir aber auf alte Zeiten zurückblicken, wissen wir, wie die Geschichte gelaufen ist. Laut Tobias Becker geben wir ihr durch unsere Erinnerung und Erzählung eine gewisse Form, die sinnhaft und vertraut wirkt. Im Gegensatz zur offenen Gegenwart und Zukunft schafft der Rückblick an früher also auch Orientierung.

"Früher war alles besser"

Allerdings beschreibt der Geschichtswissenschaftler auch eine Abwertung des Begriffs. Denn viele verwenden das Wort Nostalgie dann, wenn jemand alte Zeiten sentimental durch eine rosarote Brille sieht. Aus der Bedeutung Sehnsucht wird dann oft ein Vorwurf, dass die Vergangenheit verklärt wird. Die Kritik an der Nostalgie sei auch oft die Angst vor der Zukunft der Personen, die als nostalgisch bezeichnet werden:
"Genau, dass die Leute die als nostalgisch bezeichnet werden zurückblicken und dann die Fähigkeit verlieren, die Herausforderung der Gegenwart und Zukunft zu managen […] Generell muss man sagen, dass es eine Art und Weise ist, […] wie wir Orientierung schöpfen und wie wir versuchen, Modelle für die Zukunft zu entwickeln […] Insofern hängen diese drei Zeitebenen [Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft] immer sehr eng zusammen." – Tobias Becker

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Revivals sind kein neuer Trend

Die Menge an Comebacks, Revivals und Reunions mag uns momentan riesengroß erscheinen. Und popkulturell gesehen ist das auch der Fall: Seit dem 01. Januar läuft die Harry Potter-Reunion, letztes Jahr gab es eine von Friends und auch ABBA sind wieder zurück. Aus historischer Perspektive erklärt Tobias Becker aber, dass es solche Phänomene eigentlich schon immer gegeben hat und sie Teil einer längeren Entwicklung seien. Zum ersten Mal groß diskutiert wurden Revivals in den siebziger Jahren, als der Film Grease die Fünfziger in die Kinos zurückholte und Petticoats und Nierentische wieder im Trend waren. Seitdem begleitet uns das in der Popkultur und ist laut Tobias Becker was ganz Normales.
"So funktioniert oft Inspiration, dass wir zurückschauen und gucken, was spricht uns da an in der Vergangenheit und oft machen dann die Künstlerinnen und Künstler damit ja dann auch was ganz Neues […] Insofern ist dieses Zurückblicken ja durchaus auch ein kreativer Prozess." – Tobias Becker

Nur Geldmacherei?

Den Vorwurf von Kritiker*innen, dass Comebacks oft nur reine Geldmacherei seien, versteht Tobias. Popkultur sei immer auch kostenintensiv und risikobehaftet. Da ist es einfacher, etwas Vertrautes und Bewährtes zu nutzen. Oft wird kritisiert, dass so Potenzial verschenkt wird und nichts Neues entsteht. Hier lenkt der Wissenschaftler allerdings ein: Weil der Fokus oft so stark auf Revivals und Reboots liegt, erkennen wir nicht mehr so leicht, dass gleichzeitig auch eine Menge neuer Dinge passiere. Was 2022 also ausmacht, wird vielleicht erst in fünf bis zehn Jahren mit ein bisschen Abstand klar, wenn bekannt ist, wie sich die Popkultur weiterentwickelt. Ganz unabhängig voneinander seien alte und neue Trends jedoch nie. Tobias Becker sieht in der Nostalgie deshalb auch Potenzial für die Zukunft:
"Solange Popkultur kommerziell als Konsumkultur organisiert ist, werden wir immer diese Elemente diskutieren, wie wir sie seit den 70er Jahren finden […] generell glaube ich, dass solange es Kultur geben wird, zurückblicken und sich orientieren an historischen Beispielen einfach immer eine wichtige Benchmark sein wird, die helfen wird, Inspiration zu finden, Neues zu produzieren und das einzureihen." – Tobias Becker



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