Mit 'Nie wieder Krieg' veröffentlichen Tocotronic ihr mittlerweile 13. Album. Warum Musik wie eine Häutung ist und ob die Ansprüche an sich selbst nach so viel Musik steigen, erzählt Sänger Dirk von Lowtzow im Interview.
radiowelt
31.01.2022
Tocotronic bei egoFM
Dirk von Lowtzow zu Gast bei egoFM Sebastian
Die egoFM Privataudienz mit Tocotronic
"Lyrik ist immer in gewisser Hinsicht auch ein Rätsel" - im Interview erzählt Dirk, wie er es findet, wenn Fans die Musik von Tocotronic interpretieren und erzählt von Selbstzweifeln trotz langer Bandgeschichte.
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Tocotronic bei egoFMDirk von Lowtzow zu Gast bei Sebastian
Ein ewiger Sonntagnachmittag
Es ist eine eingefrorene Stimmung, die auf Neuanfang trifft. Dieses ambivalente Gefühl beschreiben Tocotronic vor der Veröffentlichung ihres neuen Albums Nie wieder Krieg. Es liegt seit über einem Jahr fertig abgemischt und gemastert in der Schublade, erzählt Dirk von Lowtzow. Wegen der pandemischen Lage konnten sie es bisher noch nicht veröffentlichen. Zwischenzeitlich war das Release Date für September geplant. Jetzt, vier Jahre nach dem letzten Album Die Unendlichkeit erscheint es endlich, was für die Band sehr aufregend ist.
"Dass es nun endgültig […] soweit ist, macht uns schon sehr glücklich. Wir sind auch bisschen aufgeregt und natürlich bedeutet es nach langer Zeit […] auch in gewisser Hinsicht ein Aufbruch." – Dirk von Lowtzow
Die Ungewissheit, ob sie mit dem neuen Album auf Tour gehen können, trübt allerdings die Freude über die Veröffentlichung. Während der Aufnahmen hatten sie Zeit, die Songs noch sorgfältiger zu bearbeiten und noch mehr zu zergrübeln. Dirk beschreibt es als ewigen Sonntagnachmittag. Allerdings blicken sie dem Release mit einem ambivalenten Gefühl entgegen. Bisher stehen die Konzerte für März und April noch und können hoffentlich stattfinden, die Zweifel schwingen aber immer mit.
Nach dem Nacktmachen kommt die Häutung
Während das letzte Album Die Unendlichkeit einer autobiografischen Erzählung glich, wirkt Nie wieder Krieg noch persönlicher und geht noch tiefer. Laut Dirk ist so eine Entwicklung aber natürlich. Seit 2015 öffne sich die Band immer mehr, ganz nach dem Motto "Ich öffne mich", einem Song auf der unbetitelten aber von Fans als rotes Album bezeichneten Platte aus demselben Jahr. Es sei der Startschuss gewesen, sich selbst stärker in die Texte hineinzuschreiben. Das rote Album, Die Unendlichkeit und Nie wieder Krieg sind also Alben, die sich gegenseitig bedingen. Ohne die Vorgänger hätte die neue Platte nicht existieren können. So, meint Dirk, seien persönliche Krisen, die sich im eigenen Körper manifestieren, die Grundlage fast aller Songs."Es ist wichtig, dass man ein Risiko eingeht, wenn man ein Album macht und wenn man Songs schreibt. […] Da macht man sich manchmal nicht nur nackt, sondern man häutet sich vielleicht sogar auch." – Dirk von Lowtzow
Düsteres Wiegenlied
In der Geschichte von Tocotronic ist auf dem neuen Album das erste Feature ever zu hören. Zusammen mit der österreichischen Sängerin Soap & Skin haben sie das Duett "Ich tauche auf" aufgenommen. Der Song wurde laut Dirk wie aus einem Traum geboren. Während der Produktion wurde der Band aber schnell klar, dass der Song mit zwei Personen noch an mehr Tiefe gewinnen würde. Weil ihnen die Schreibsphäre und Musik von Soap & Skin so gut gefiel, dachten sie sofort an sie als Duettpartnerin. Sie nahm ihre Gesangsspur bei sich in Wien auf und schickte sie an Dirk, der währenddessen im Zug saß und, wie er erzählt, in seinem Abteil fast in Tränen ausbrach, weil es so schön miteinander verwoben war. "Ich tauche auf" ist für ihn wie ein düsteres Wiegenlied.Lyrik ist immer ein Rätsel
Auch die Fans lieben "Ich tauche auf." Unter dem Musikvideo zum Song sprechen über 400 positive Kommentare für sich. Viele davon bringen ihre eigene Interpretation in das Lied. Dirk ist sehr gerührt von den Kommentaren, er beschreibt sie als Kontakt zur Außenwelt, als eine Art Briefkasten für die Fans. Lyrik sei immer auch ein Rätsel, mit dem sich jemand auseinandersetzt."Wir verfertigen diese Songs […] und im Nachgang kann jeder, der das anhört, seine eigene Lesart darauf anwenden. Ich glaube so funktioniert Popmusik, die wird überhaupt erst durch das Hören vollendet." – Dirk von Lowtzow
Privileg der langen Bandgeschichte
Im Jahr 1993 gründete sich die Band. Zwei Jahre später erschien das Debütalbum Digital ist besser. Nie wieder Krieg ist mittlerweile das 13. Und im nächsten Jahr feiern Tocotronic ihr 30-jähriges Bestehen. Vor diesem Jubiläum und einer eventuellen Stagnation hat Dirk allerdings keine Angst. Die Band sei selbstkritisch genug. Außerdem schätzt er die lange Bandgeschichte sehr."Zunächst mal würd ich sagen, das ist ein sehr großes Glück, weil das ist nicht so vielen Bands beschieden […] und ein sehr großes Privileg und vielleicht unserer gegenseitigen Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme geschuldet." – Dirk von Lowtzow
Trotzdem plagen Dirk bei jeder neuen Platte wieder Selbstzweifel. Es sei ein bisschen, als stünde man vor einer Null oder wie der Ochs am Berg, meint er. Am Ende sei aber es immer ein Wunder, dass ein Album herauskommt. Egal wie viel man vorher schon gemacht hat, jedes weitere Album ist ein erneuter Aufbruch. Jede neue Platte ein Neuanfang. Ein Motto, das Mut macht, vor allem in Zeiten von Corona: Egal was vorher war, es gibt immer wieder eine neue Chance!
Die egoFM Privataudienz mit Tocotronic
Diesen Freitag übernimmt Dirk von Lowtzow von 20 bis 21 Uhr das egoFM Studio, spielt 12 seiner liebsten Songs und erzählt ganz private Geschichten und interessante Hintergrundinfos dazu. Die Wiederholung der egoFM Privataudienz gibt's übrigens am Sonntag von 13 bis 14 Uhr. Alle Songs die Dirk von Lowtzow mitgebracht hat siehst du hier.
Tracklist:
- Taylor Swift - Champagne Problems
- Mary J. Blige - No More Drama
- Nina Simone - Black Is the Colour of My True Loves Hair
- Masha Qrella & Dirk von Lowtzow - Das Meer
- Neil Young & Crazy Horse - Love and Only Love
- Tocotronic feat. Soap&Skin - Ich tauche auf
- Dean Blunt - PUNK
- Wet Leg - Chaise Lounge
- Sun Ra - Nuclear War
- Veranda Music - Moni
- Dinosaur Jr - I Ran Away
- Tocotronic - Ich Hasse Es Hier
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