Tocotronic: Nie wieder Krieg

Tocotronic: Nie wieder Krieg

Das Album der Woche

Von  Vitus Aumann
29 Jahre nach Bandgründung sind Tocotronic endlich komplett ehrlich zu uns.

Die Gnade der frühen Geburt: Wäre Dirk von Lotzow nicht in einer Zeit geboren, als Social Media noch Theorie und kein Problem war, wäre er bestimmt eines dieser Internetphänomene geworden, die alle zwei Tage mit einem neuen Spruch viral gehen.


Oder noch schlimmer: Vielleicht wäre er als Chefkonzepter bei einer hippen Werbeagentur gelandet und müsste jetzt pseudomotivierende Newsletter an die Kollegenschaft schreiben.

Erfreulicherweise war es früher eben üblich, eine Gitarre in die Hand zu nehmen, um seine cleveren Beobachtungen mit der Welt zu teilen – und das klingt bei Tocotronic auch fast 30 Jahre nach der Gründung erstaunlich passend zur Gegenwart.  




Würdevoll am Abgrund.

Eine Band, die so lange unterwegs ist, hat natürlich schon viele ureigene Epochen durchlebt. Tocotronic hatten bereits ihre Hamburg und Berlin Trilogien: Nie wieder Krieg ist jetzt so etwas wie der Abschluss der persönlichen Trilogie, die mit dem roten Album, der Liebe, ihren Anfang genommen hat. Das mag beim Albumtitel und der Trackliste erst mal komisch vorkommen: "Komm mit in meine freie Welt" und "Jugend ohne Gott gegen Faschismus" klingen erst mal nach gnadenloser Einordnung der gegenwärtigen Situation. Aber der Krieg, von dem im Albumtitel die Rede ist, beschreibt eher den Krieg mit sich selbst. Der Kampf mit dem eigenen Körper, gegen die Ängste und für die Sehnsucht.

Songtitel, die politisch klingen, drehen sich also eigentlich mehr um die eigenen Gefühle und die Textzeilen schwanken wie üblich zwischen scheinbar trivial und vollgestopft mit Pathos. So schaffen es Tocotronic auf dem Weg vom Kühlschrank zum Ofen nicht nur Kräuter der Provence zu beleidigen – sie schaffen es auch, Tiefkühlpizzen mit Liebeskummer und genereller Frustration zu verbinden und mit einem herrlich eindeutigen "Ich hasse es hier" zusammenzufassen.

Jeder Mensch, der schon einmal beim Anblick verschimmelter Lebensmittel im Kühlschrank die gesamte Welt hinterfragt hat, sollte sich sofort abgeholt fühlen.




Schall und nicht ganz so viel Wahn.

Auch der krachige Sound der ganz frühen Tage liegt weitestgehend begraben - auch wenn die Songtitel zu Rebellion aufrufen und vor Hass triefen, gehen Tocotronic deutlich sanfter zur Sache. Gitarren jaulen zwar zur Genüge, aber immer mit dezentem Abstand zur Stressgrenze. Der Fokus steht immer auf Dirks Stimme, der jede Silbe so stark betont als wäre sie der wichtigste Laut der jemals gesungen wurde. Die Musik ordnet sich da gerne unter, so darf über ein Monster, dass das Kinderzimmer heimsucht, auch einmal kindliches Glockenspiel ertönen.

Und Tocotronic haben keine Scheu davor, ins vermeintlich Kitschige abzudriften, nur um dann spektakulär berührend zu werden: Das allererste Duett der Band wird dank der großartigen Soap&Skin zu einem unglaublich ergreifenden Moment – auch weil sich Dirks Textzeilen dann eben einmal nicht in cleveren Wortspielereien verstecken, sondern ungewöhnlich direkt erklingen. Wenn das rote Album der Anfang der Tocotronischen Öffnung zu den eigenen Gefühlen war, ist "Ich tauche auf" ein würdiger Abschluss.



Es sind solche Augenblicke, die zeigen, dass Tocotronic trotz fortgeschrittener Karriere noch lang nicht alles gesagt haben.


Aber auch die üblichen Slogans, die Tocotronic zum absoluten Nischenliebling gemacht haben, treffen auf Nie wieder Krieg zielgenau ins Schwarze. Dieses Mal vielleicht weniger zynisch wie früher, dafür etwas näher am Wohlfühlzentrum.

Es ist wahrlich ein großes Glück, dass Dirk nicht auf Twitter gelandet ist – von Tweets kann man schließlich keine Ohrwürmer bekommen.

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Tracklist: Tocotronic - Nie Wieder Krieg


01 Nie wieder Krieg
02 Komm mit in meine freie Welt
03 Jungend ohne Gott gegen Faschismus
04 Ich gehe unter
05 Ich tauche auf (feat. Soap&Skin)
06 Ich hasse es hier
07 Nachtflug
08 Ein Monster kam am Morgen
09 Crash
10 Leicht lädiert
11 Hoffnung
12 Liebe

Nie Wieder Krieg von Tocotronic wurde am 28. Januar 2022 bei Universal veröffentlicht.

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