Ein Coming of Age Drama, das nahezu alle Facetten abdeckt.
Eigentlich kein Wunder, dass so viele Filme, Bücher und Serien sich über das Erwachsenwerden drehen – diesen Horror haben wir eben alle irgendwann mitgemacht.
Wahrscheinlich ist keine Phase im Leben so aufregend und gleichzeitig so erschütternd: Es ist die Zeit im Leben, die einem zeigt, dass man vielleicht doch nicht die Person ist, von der man immer gedacht hat sie zu sein. Eine ganz schöne Mammutaufgabe, alle Emotionen des Erwachsenwerdens einzuordnen – aber genau diese hat sich Lucy Dacus für ihr drittes Album vorgenommen.
Heimkehr in die plötzliche Fremde
Nach einer enorm langen Tour hatte Lucy eigentlich allergrößte Sehnsucht nach ihrer Heimatstadt Richmond verspürt. Aber nach der langen Zeit weg von Zuhause waren plötzlich viele Dinge anders: Aus dem Indie-Geheimtipp wurde nach ihrer zweiten Platte Historian und der Supergroup Boygenius plötzlich so etwas wie ein Indie-Star.Und weil Lucys Songs eben schon immer keine Scheu hatten persönliche Geschichten mit der Welt zu teilen, dachte jede*r noch so flüchtige Bekannte ganz genau über Lucys Leben Bescheid zu wissen.
Solche Konfrontationen brachten die Sängerin dazu mal alles zu überdenken: "Bin ich noch die gleiche Person, die damals diese Songs geschrieben hat? Und bin ich das geworden, was sich mein jugendliches Selbst vorgestellt hat?" Die Inspiration für Home Video war gefunden.
Kaltblütiger Mord nach der Bibelschule
In ihren Songtexten ist Lucy Dacus quasi auf Ursachenforschung gegangen – und so kann fast jeder Song als Plotpitch für eine Coming of Age-Serie herhalten. Zum Beispiel "VBS", ein Song über Ferien in einem religiösen Sommercamp, bei dem allerdings recht schnell ein Slayerfan Jesus die Hauptrolle streitig machen wollte. Lucy singt davon, sich selbst kennenzulernen, toxische Beziehungen zu verarbeiten, Dinge zum ersten Mal zu spüren und Familienmitglieder, die alles nur noch schlimmer machen. Dabei gibt sie sich wie so oft verletzlich, aber manchmal lässt sie auch den Zorn zu: In "Thumbs" werden kurzzeitig wilde Mordfantasien laut, die dem eigentlich so ruhigen Song eine düsteren Schatten verpassen.Aber wenn sie am Ende von "Christine" verkündet, dass sie lieber ihre Würde aufgibt als ihre Freundschaft, ist das gleichermaßen wunderschön wie unfassbar traurig.
Bei so viel Neuorientierung ist es natürlich nur logisch, dass sich auch Lucys Sound verändert hat.
Opener "Hot & Heavy" gibt da gleich einen guten Vorgeschmack: Synthiestreicher und helle Klaviertöne geben dem Song eine Art The War On Drugs-Stimmung, die man so noch nicht von ihr kannte. Klavier ist sowieso ein gutes Stichwort. Lucy hat sich sonst eher geweigert, das Instrument in ihre Musik einzubauen, einfach weil ihre Mutter Klavierlehrerin war und ihrer Musik nichts mit musikalischer Früherziehung zu tun haben sollte. Aber da Home Video schon so konsequent in die Vergangenheit schaut, darf bei Songs wie "Christine" und "Please Stay" sanft in die Tasten gedrückt werden. Wer sich aber in Lucys früheren Sound verliebt hat, findet auch auf Home Video noch genug plötzlich einsetzende, verzerrte Gitarrenwände und die sanfte, in Melancholie getränkte Markenzeichenstimme – auch wenn diese in "Partner in Crime" plötzlich durch Autotune gejagt wird.
Gut möglich, dass viele Hörer*innen Home Video schnell in die "Sad Girl Indie" Schublade stecken werden.
Da passen Lucy Dacus und ihr Album aber eigentlich überhaupt nicht hin: Sie schreibt eben über das Leben – das ist meistens weder ganz glücklich noch komplett düster, sondern eben ein ganz bestimmter Punkt dazwischen, den Lucy wahnsinnig präzise trifft. Home Video ist ein Album voller Songs, die zwar locker in etliche Coming Of Age Movie-Soundtracks passen, aber eigentlich gar keine begleitende Bilder brauchen, um berührende Geschichten zu erzählen.
Artikel teilen: