Keine zynische Gesellschaftsanalyse mehr: Arcade Fire sind wieder ehrlich, gefühlvoll und großartig.
"Fuck The Haters!" Moment, Arcade Fire haben Hater?
Kurz verwirrt konnte man schon sein, als Win Butler neulich Live auf Twitch mal kurz gegen die Kritiker*innen der letzten Platte Everything Now geschossen hat. Denn die war zwar wirklich kein kompletter Fehlschlag, aber die etwas zynische Abrechnung mit der digitalen Reizüberflutung kam bei den Fans lange nicht so gut an, wie die Platten davor. Und plötzlich waren die bis dahin unfehlbaren Arcade Fire einfach "Nur noch" eine sehr gute Band. Fünf Jahre und gefühlt hundert verschiedene weltverändernde Ereignisse später sind die Kanadier wieder da – und zeigen, dass sie ihr vermeintliches Formtief in jeder Hinsicht überwunden haben:Auf WE klingen Arcade Fire wieder so wie die Band, in die sich die gesamte Welt vor fast zwanzig Jahren so sehr verliebt hat.
Ich alleine.
WE beginnt regelrecht klaustrophobisch: ein paar Klaviertöne, ein wabernder Synthie. Win singt, Régine flüstert. Ein ungewohnter Beginn von einer Band, die vor allem in letzter Zeit eher nach gigantischem Stadion klang. Die letzten zwei Jahre schweben eben doch unüberhörbar über der Platte, auch wenn Arcade Fire schon lange vor den Lockdowns an den Songs geschrieben haben.Aber schon zu dieser Zeit driftete die Realität ja schon in absurde Regionen ab. Alle paar Minuten trudeln neue Pushnachrichten mit neuen Horrormeldungen auf dem Smartphone ein – Arcade Fire nennen das ganze das Zeitalter der Angst. Dann wirft die Pandemie auch noch alles erst recht über den Haufen und das "Age of Anxiety" bekommt eine ganz neue Bedeutung.
Der gigantische Weltschmerz bedeutet für Arcade Fire auch eine kleine Rückbesinnung auf alte Klänge: Wenn "Age of Anxiety I" mit seinen düstern Tönen beginnt, fühlt man sich fast an das frühe Meisterwerk Funeral erinnert – bis der Song in der Mitte plötzlich einen Zeitsprung zur Reflektor Ära macht und wieder LCD Soundsystem heraufbeschwört. "Age of Anxiety II (Rabbit Hole)" setzt weiter auf Reflektor Klänge und auch wenn die Band den extrem poppigen Everything Now-Sound links liegen lässt, bekommt die Platte mit dem enorm epischen "End of The Empire" thematisch einen würdevollen Rückblick.
In seinen besten Momenten klingt WE so, als hätten Arcade Fire die Stärken ihrer bisherigen Platten zusammengeworfen, um uns die Gegenwart zu erklären.
Wir zusammen
Bis zu dieser, zusammengenommen stolze zehn Minuten langen Hymne klingt WE wie ein enorm wohlklingendes, aber auch ziemlich bedrückendes Album. Aber bei Arcade Fire lagen Trauer und Euphorie immer schon nur ein paar Songzeilen auseinander. Und so nimmt auch WE zur Mitte einen erstaunlichen Wandel hin:Während sich die erste Hälfte der Platte mit der Isolation und der Einsamkeit beschäftigt, handelt die zweite Seite vom wieder zusammenkommen.
"The Lightning" darf hier spektakulär eröffnen: Win und Régine stimmen einen Mitgröhlrefrain an, bis dann die Band im zweiten Teil des Songs den gesamten Isolationsfrust in einen elektrisierenden Wirbelsturm verwandeln darf – plötzlich ist die Stadiumrock Band wieder da. Und genau in diesem Tempo geht es weiter "Lookout Kid" ist zwar sicherlich nicht der komplexeste Song den die Band je geschrieben hat, trotzdem sollte sich niemand schämen, wenn einem die liebevolle Durchhaltehymne an den gemeinsamen Sohn die Tränen in die Augen treibt. Und Régine sorgt bei "Unconditional II (Race and Religion)" mit einem mitreißend dramatischen Liebessong noch für ein spätes Highlight der Platte.
Für WE haben sich Arcade Fire zwar nicht schon wieder neu erfunden, aber spektakulär wieder entdeckt, warum diese Band sich so schnell zum großen Held der Indieszene entwickelt hat: So gekonnt mit Gefühlen spielen eben nur die Kanadier.
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