Meinung: Das Alter als Maßstab

Meinung: Das Alter als Maßstab

Gut, schlecht oder einfach nur vollkommen überbewertet?

Von  Miriam Fischer
Wie alt bist du? Und was sagt das eigentlich über dich aus? Spoiler Alert: Nicht besonders viel.


Ich bin Mitte Zwanzig

Je nach dem, mit wem ich mich vergleiche, ist das echt noch jung oder fast schon alt. Und je nach dem, mit wem ich mich vergleiche, habe ich dafür echt schon viel erreicht oder mir bisher mit allem irgendwie zu viel Zeit gelassen. Also was sagt es schon aus, wie alt ich bin? Können wir das Alter nicht einfach endlich abschaffen? 

Ne, natürlich nicht.


Ich gebe schon zu, dass man mit 7 echt noch nicht den Bundestag wählen dürfen sollte und ich bin auch dagegen, dass man mit 11 seinen Führerschein machen kann. Also ja, manche Entwicklungsstufen sind einfach biologisch an das Alter geknüpft. Trotzdem sage ich, dass ganz Vieles mehr mit kognitiven Fähigkeiten, Erfahrungen und tausend anderen Dingen zu tun hat, als mit dem Alter per se.

Das Alter sagt nichts über Kompetenzen aus

Ein 50-Jähriger fährt nicht grundsätzlich besser Auto, als eine 19-Jährige, eine 40-Jährige trifft nicht zwangsläufig klügere Wahlentscheidungen, als ein 16-Jähriger und ob ich mit 23 oder mit 36 schwanger werde, sagt nichts über meine Fähigkeiten als Mutter aus.

Kompetenzen lassen sich eben nicht anhand des Alters bemessen. Und wie ungerechtfertigt es ist, wenn man es doch macht, verdeutliche ich mal an zwei Beispielen: 

Luisa Neubauer ist zu jung

Klar, Luisa Neubauer hat neben ihrem Alter noch ein anderes großes Problem - Sie ist eine Frau. Aber aufgrund dessen, dass sie gerade mal Mitte Zwanzig ist, wird sie eben oft nicht nur als links-grün-versiffte Frau, sondern als links-grün-versiffte Göre bezeichnet. Und damit wir hier auf dem gleichen Stand sind: Göre steht für ein "kleines, unartiges oder lebhaftes Kind, insbesondere Mädchen." Nochmal, sie ist 25, nicht 5.

Der Begriff "Göre" wird in diesem Zusammenhang verwendet, um klar zu stellen, dass man sich inhaltlich gar nicht mit Neubauer auseinandersetzen muss, weil sie sowieso zu jung ist und gar keine Ahnung von irgendwas haben kann. Praktisch. Um aber zu urteilen, ob sie mit dem, was sie sagt, Recht hat oder nicht, muss man sich schon inhaltlich mit ihr auseinandersetzen. Da reicht es nicht zu sagen: Sie ist jung und hat deshalb keine Ahnung. Und das gilt nicht nur für Luisa Neubauer, sondern für alle jungen Aktivist*innen und Politiker*innen, die tagtäglich allein aufgrund ihres Alters nicht ernst genommen werden. 

Das gilt aber auch in die andere Richtung:


Horst Seehofer ist zu alt

Horst Seehofer ist für mich ein alter weißer Mann und jedes Mal, wenn er anfängt zu sprechen, will ich tatsächlich nur "OK BOOMER" schreien, bevor ich weiß, was er sagen will. Aber ist das fair? Nein. Denn nur weil er alt ist, darf ich nicht davon ausgehen, dass er grundsätzlich keinen Plan von irgendwas hat. Auch hier gilt eben: Um zu urteilen, ob er mit dem, was er sagt, Recht hat oder nicht, muss man sich schon inhaltlich mit ihm auseinandersetzen. Da reicht es nicht zu sagen: Er ist alt und hat deswegen keine Ahnung. Aber klar, wer sich inhaltlich mit Horst Seehofer auseinander gesetzt hat, kann sich aus anderen Gründen eigentlich sicher sein, dass er nicht besonders menschliche und gehaltvolle Dinge sagen wird... aber das ist ein anderes Thema.

Was Kollegin Vicky dazu sagt, kannst du übrigens hier hören:

  • Alter als guter Maßstab?
    Junge Aktivist*innen und Falten im Modelbusiness

Aber zurück zu mir: Meine Abneigung gegen das Alter als Maß beruht nicht nur auf dem willkürlichen Zu- und Absprechen von Kompetenzen, sondern auch auf den Bewertungen und Erwartungen, die zwangsläufig mit den jeweiligen Zahlen einhergehen. 

Jung ist gut und alt ist schlecht - Oder anders rum?

In meiner Jugend wurde ich grundsätzlich älter geschätzt. Und wenn ich dann gesagt habe, wie alt ich tatsächlich bin, hab ich fast immer zu hören bekommen "NOCH ist es ja nicht schlimm, wenn du älter geschätzt wirst". Aber ab wann soll es denn schlimm sein? Wäre es jetzt schon schlimm? Und warum überhaupt?

Wenn es irgendwann schlimm ist, alt zu sein (oder alt geschätzt zu werden) würden das ja bedeuten, jung sei grundsätzlich besser, als alt. Und da widerspreche ich schon: Ich will ich auf gar keinen Fall wieder jünger sein. Ich bin heilfroh über jedes Jahr, dass ich älter werde, Erfahrungen sammle und mich weiterentwickle. Ich will nicht mehr heulend vor meinem Kleiderschrank stehen, weil ich nicht weiß, was ich für die Schule anziehen soll - und ich bin zuversichtlich, dass ich in 10 Jahren froh bin, nicht mehr so unsicher zu sein, wie ich es heute noch oft bin. 

Gleichzeitig bin ich aber auch keine Flasche Rotwein, die mit jedem Jahr das vergeht, an Qualität und Wert zunimmt. 


Ich kann von Menschen, die jünger sind als ich, einiges lernen und bin absolut kein Fan von Begriffen wie "Best Ager". Es gibt nämlich einfach kein allgemeingültiges bestes Age. Und dass ich hier so hervorhebe, dass weder alt noch jung sein das Nonplusultra ist, liegt daran, dass die Fixierung auf das Alter so ungemein paradox ist, dass nicht mal ganz klar ist, wann jetzt eigentlich was besser sein soll.

Außerdem hängen mit dem Alter auch immer Erwartungen zusammen

Und von denen bin auch ich nicht frei: Seit einigen Jahren warte ich darauf, dass ich eines morgens aufwache, meine Piercings für immer rausnehme, einen Arzttermin ohne vorangegangene Panikattacke ausmache, weiß, wie ich mir mal meine Rente finanziere und schlichtweg das Leben einer Erwachsenen lebe. Denn eigentlich bin ich mit 26 längst erwachsen und sollte endlich die Klischees erfüllen, die ich mir selbst eingeredet habe und mir habe einreden lassen.

Die Realität sieht aber so aus: An manchen Abenden trinke ich ein Glas Rotwein und schau Tatort und an manchen Abenden freu ich mich über Hasen-Gummibärchen und den neuesten Animationsfilm auf Netflix. In manchen Momenten denke ich mir "Ok Boomer" und im nächsten Moment komme ich mir selbst vor wie der größte Boomer. Und ja, Panikattacken vor Arztanrufen sind immer noch Standard. Manchmal erfülle also ich Erwartungen und manchmal nicht. 

Müssen wir also vielleicht einfach hin und wieder unsere Vorstellungen von Alter anpassen, revidieren oder ganz verwerfen? 

Vermutlich müssen wir sie ganz verwerfen, denn aktuell sieht es doch so aus: Jungen Menschen wird Kompetenz abgesprochen, weil sie jung sind und alten Menschen wird abgesprochen, am Zahn der Zeit sein zu können, weil sie alt sind. Jugendliche Mädchen in kurzen Kleidern ziehen sich zu erwachsen an, erwachsene Frauen in kurzen Kleidern zu jugendlich. Niemand sollte zu früh eine Familie gründen, aber zu alt sollte man beim ersten Kind natürlich auch nicht sein. Es ist schön, wenn Männer jung geblieben sind, wenn man aber mit 50 das Surfen anfängt und wieder Jeansjacken getragen werden, ist plötzlich abfällig die Rede von einer "Midlife Crisis". Und so könnte ich endlos weitermachen.

Unterm Strich: Ich bin ständig für irgendwas zu jung oder zu alt. Und ständig soll ich irgendetwas aufgrund meines Alters nicht mehr oder noch nicht können.

Dabei ist doch am Ende nur eins wichtig: 

Wenn du mit 21 Kinder kriegen und auf's Dorf ziehen willst, ist das genauso ok, wie wenn du mit 45 nochmal eine Ausbildung machst. Es ist ok, auch mit 50 noch die Lederjacke zu tragen, die man sich als stolze*r 20 Jährige*r gekauft hat und es ist ok, mit 20 am Freitagabend zu puzzlen und mit 35 die Nacht im Club durchzufeiern. Und nur weil jemand alt oder jung ist, hat er*sie nicht zwangsläufig von irgendwas mehr oder weniger Ahnung. Oder kurz: Das Alter ist als Maßstab vollkommen überbewertet. 




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