Wird die Menschheit tatsächlich immer dümmer?

Wird die Menschheit tatsächlich immer dümmer?

Neurobiologe Prof. Dr. Martin Korte im Interview

Neurobiologe Prof. Dr. Korte hat egoFM Gloria im Interview einige Fragen beantwortet - zum Beispiel was Musikhören in unserem Gehirn auslöst, wie wir unser Gedächtnis optimal trainieren können und ob wir als Gesellschaft tatsächlich immer dümmer werden.


Das menschliche Gehirn

Hirnforscher Prof. Dr. Martin Korte lehrt Neurobiologie an der TU Braunschweig und leitet das dortige Institut für Zoologie. Zu seinen Schwerpunkten gehören die Themen Lernen und Gedächtnis. 
  • Prof. Dr. Martin Korte über das menschliche Gehirn
    Im Gespräch mit egoFM Gloria


Die Wirkung von Musik

Fakt ist: Musik aktiviert die Gefühlsareale in unserem Gehirn. Das heißt, wenn wir Musik hören, die wir mögen, kommt es zu einer Reduktion der Stresshormone und unser Gehirn verfällt in neue Rhythmen. So können wir nicht nur entspannen, sondern auch auf neue Ideen zu kommen. Dabei betont Dr. Prof. Korte allerdings, dass Musik hören parallel zu einer anderen Tätigkeit immer eine Ablenkung darstellt. 

"Der Mensch kann genau genommen kein Multitasking, sondern wir können nur zwischen Tätigkeiten wechseln. Deswegen wenn man Musik hört, muss man sich ganz kritisch hinterfragen: Ist der positive Effekt auf unser Gefühlsleben stärker als der ablenkende Aspekt?" - Prof. Dr. Martin Korte

Außerdem spielt der Sprachanteil bei der Musik eine wichtige Rolle: Umso mehr wir uns auf Sprache konzentrieren, umso größer ist die ablenkende Wirkung. Und am besten ist es sowieso, gleich selbst zu musizieren, sagt Martin Korte - dadurch wird unser Gehirn in sehr vielen verschiedenen Arealen gestärkt.

Geschlechtsspezifische Unterschiede im Gehirn

Es gibt zwar geschlechtsspezifische Unterschiede im Gehirn, allerdings sind diese weder besonders gravierend, noch stehen sie im Zusammenhang mit der Intelligenz. Der Leistungsunterschied innerhalb eines Geschlechts ist um einiges größer als zwischen männlich und weiblich. Außerdem haben Sozialisation und (Selbst)Vertrauen einen wesentlich größeren Einfluss als das Geschlecht. 

"Man vergisst immer, dass unsere Leistungsfähig noch viel viel stärker davon abhängt, was andere von uns erwarten und was andere uns zutrauen, als das Geschlecht das vorhergeben kann. [...] Ich glaube das ist eher die wichtigere Botschaft, nicht zu sehr auf das Geschlecht zu schauen, sondern eher darauf zu schauen, dass man den Menschen sieht." - Prof. Dr. Martin Korte 


Das Gedächtnis

Zu den Schwerpunkten von Prof. Dr. Martin Korte gehört das menschliche Gedächtnis - wobei es "das Gedächtnis" eigentlich gar nicht gibt, wie der Neurobiologe gleich zu Beginn erklärt.

Genau genommen haben wir nämlich verschiedene Gedächtnisfähigkeiten, die jeweils von unterschiedlichen Gehirnarealen übernommen werden. Im Volksmund ist mit Gedächtnis allerdings meist das autobiographische Gedächtnis und das Faktengedächtnis gemeint, erklärt Martin Korte.


Wir kennen es fast alle: Jemand stellt sich uns vor und in der nächsten Sekunde können wir uns schon nicht mehr an den Namen erinnern.

Das liegt allerdings nicht an einem vermeintlich schlechten Gedächtnis, sondern an unserer Aufmerksamkeit. Vermutlich haben wir zum Zeitpunkt der Begegnung nicht richtig hingehört und waren abgelenkt, sodass der Name gar nicht erst im Gedächtnis hängen geblieben ist, sagt Prof. Dr. Korte. 

Die gute Nachricht: Aufmerksamkeit und Konzentration können trainiert werden

Um die eigene Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit zu trainieren, kann man zum Beispiel über mehrere Stunden hinweg einer Tätigkeit nachgehen, ohne dabei ständig auf das Smartphone zu schauen. Auch lesen und meditieren fördern die Konzentration und Aufmerksamkeit und durch sportliche Aktivitäten wird die Entwicklung, Vernetzung und Leistungsfähigkeit unserer Gehirne verbessert.

Aber auch das Gedächtnis an sich kann enorm verbessert werden

Um sein Gedächtnis zu trainieren, muss man sich Methoden überlegen, mit denen man sich Dinge gut merken kann - und diese Methoden müssen dann trainiert werden. Zum Beispiel kann man sich zu jeder Ziffer ein Symbol überlegen - bei der 2 denkt man zum Beispiel an eine Schlange, bei der 4 an einen Stuhl und bei der 7 an die sieben Zwerge. Zu diesen Symbolbildern kann man sich dann noch eine Geschichte überlegen und sich so dann die PIN der Bankkarte merken.

"Das klingt erst absurd und das kostet am Anfang auch viel Zeit [...], aber: Wenn man jemals erstaunt ist über die Leistungsfähigkeit von Gedächtnisweltmeistern, dann muss man wissen, dass die überhaupt keinen genetischen Vorteil haben. Die haben nicht von Geburt an ein geniales Gedächtnis, sondern die trainieren ihr Gedächtnis genauso." - Prof. Dr. Korte 

Mit Hilfe solcher Assoziationsmechanismen ist es möglich, sich Positionen, Zahlen, Wörter, Zusammenhänge oder eben Namen zu merken.

Unser Gedächtnis prägt unsere Zukunft

Der Gedanke liegt nahe, dass unser Gedächtnis nur dafür da ist, die Vergangenheit zu rekapitulieren und zurückzublicken. Evolutiv gesehen ist die Aufgabe des Gedächtnisses aber, die Zukunft zu planen und zu simulieren. 

Beim Blick zurück fehlt es deshalb oft auch an Details und es kann passieren, dass wir uns an etwas falsch erinnern.


Zu diesen falschen Erinnerungen kann es aus zwei verschiedenen Gründen kommen: Zum einen verändern wir unser Gedächtnis und passen es unserer heutigen Weltsicht an. Ein Beispiel: Wenn eine Person im Laufe ihres Lebens immer konservativer wird und kann es passieren, dass sie irgendwann denkt, sie sei schon immer so konservativ gewesen - obwohl sie in ihrer Jugend vielleicht sehr rebellisch war. 

Zum anderen haben wir Menschen den Hang dazu, uns langfristig eher die positiven Dinge zu merken als die negativen. Wir verklären zum Beispiel im Nachhinein Beziehungen oder Urlaube und erinnern uns nur noch an das Schöne. So kann es auch zu dem häufigen Fehlschluss kommen, früher sei alles besser gewesen.

"Ich empfehle immer allen Menschen eher Geld in einen Urlaub zu investieren als in ein neues Auto. Weil das neue Auto wird nur schlechter und rostiger, während die Urlaubserinnerungen immer schöner werden." - Prof. Dr. Martin Korte

Traumatische Erlebnisse sind davon eine Ausnahme - diese Art von negativen Erinnerungen bleibt uns auch nach langer Zeit negativ im Gedächtnis.

Die wichtigste Frage zum Schluss: Werden wir als Gesellschaft tatsächlich immer dümmer?

Seit 1930 konnte beobachtet werden, dass der durchschnittliche IQ-Wert (westlicher) Bevölkerungen ungefähr alle zehn  Jahre um drei bis vier Punkte gestiegen ist. Dieser Zuwachs kam vor zehn bis 15 Jahren allerdings zum Stoppen.

Das bedeutet für Martin Korte allerdings nicht, dass wir dümmer werden, sondern dass wir unser Potential nicht komplett ausnutzen und uns leicht ablenken lassen.

"Ich glaube nicht, dass wir dümmer werden, aber ich glaube, dass wir unser Potential nicht ausnutzen [...] und hier spielt tatsächlich die Nutzung digitaler Geräte eine Rolle, die nicht per se dümmer machen, aber die durch ihre stark ablenkende Wirkung unseren Konzentrations- und Aufmerksamkeitssystemen in unserem Gehirn nicht gut tun." - Prof. Dr. Martin Korte

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