Wie kann Kunst die Gesellschaft verändern?

Wie kann Kunst die Gesellschaft verändern?

Ich strahle aus. 100 Jahre Joseph Beuys

Kunst kann auf uns ganz unterschiedliche Wirkungen haben. Werke können uns zutiefst berühren, aber auch ihre Betrachter*innen verärgern. Einer, der mit seiner Kunst besonders gut darin war zu provozieren, ist Joseph Beuys.

Vorreiter und Jahrhundertkünstler

Dieses Jahr würde Joseph Beuys seinen 100. Geburtstag feiern. Beuys Werke setzten sich stets mit tief greifenden sozialen und gesellschaftlichen Fragen auseinander. Dabei zielte er beispielsweise als Aktionskünstler darauf ab, Menschen zum Nachdenken anzuregen und auch zu provozieren. Ob er sich dabei für drei Tage und drei Nächte mit einem Kojoten in einer New Yorker Galerie einschloss (I like America and America likes Me, 1974) oder aber einen Batzen Fett auf einen Stuhl packte (Stuhl mit Fett, 1964) - seine Werke und Aktionen sind umstritten, aber extrem durchdacht und damit wegweisend. Bis heute gilt er als einer der einflussreichsten Künstler*innen der modernen Kunst und prägte ganze Generationen von Kunstschaffenden. Nicht nur von der Kunst selbst, sondern auch von deren Zugang hatte Beuys neue Vorstellungen und überlegte sich andere Ansätze. Seiner Meinung nach sollte Kunst, neben den Werken im Museum, auch mitten im Leben aufzufinden sein. Seine Kunst sollte die Gesellschaft berühren und provozieren und zwar so stark, dass sie letztendlich vielleicht sogar zur Änderung der Gesellschaft führen könnte.

Genau an diese Idee knüpft die Ausstellung der Pinakothek der Moderne "Ich strahle aus" an. Mit ihr verlässt eine Auswahl seiner künstlerischen Objekte das Museum und bezieht Orte, die jedem*r zugänglich sind. Aus dem Museum mitten in den gesellschaftlichen Alltag. 

Wie die Kunst damit für die Gesellschaft geöffnet wird, erzählen uns im Interview Kuratorin Tatjana Schaefer und der Anwalt und Vorsitzende der Patrons of the Pinakothek, Christian von Sydow. 

  • 100 Jahre Joseph Beuys
    Tatjana Schaefer von der Sammlung Moderne Kunst in der Pinakothek und Christian von Sydow von den International Patrons of the Pinakothek

"Ich strahle aus"

Anfang der 1960er entstand mit den sogenannten Multiples eine neue Art der Auflagenkunst. Multiples sind, im Gegensatz zu Unikaten, Werke, die mehrfach geschaffen werden und deren Vervielfältigung von den jeweiligen Künstler*innen autorisiert ist. Auch die Anzahl, Größe und Beschaffenheit der Multiples legen die Künstler*innen selbst fest. Der Vorteil an Multiples ist, dass die Künstler*innen so ein größeres Publikum erreichen können (beispielsweise kann ein Werk gleichzeitig an verschiedenen Orten ausgestellt werden). Auch Joseph Beuys machte sich in den 60er- und 70er-Jahren Multiples zunutze und erschuf (in Zusammenarbeit mit den Herausgeber*innen) über 500 Stück. Während Beuys sich selbst als "Sender" sah, waren die Multiples für ihn eine Möglichkeit, seine Werke, Fragen und Ideen in die Gesellschaft zu senden: "Ich bin ein Sender, ich strahle aus".

Den zweiten Teil dieses Zitates hat die Ausstellung der Pinakothek der Moderne nun zum Titel gemacht.

"Und zwar spricht das aber eben aus der heutigen Zeit, wo Beuys nicht mehr unter uns weilt, [für] seine Kunst. Und die Kunstwerke, die wir eben an sieben Stationen in ganz München verteilt entsendet haben, die sprechen von sich aus diesen Satz 'Ich strahle aus.' und laden das Publikum ein, sie aufzusuchen und sich mit ihr auseinanderzusetzen." - Tatjana Schaefer

Ziel dieser besonderen Art der Ausstellung von Beuys Werken zu seinem 100. Geburtstag ist es also, Kunst auf andere Disziplinen antreffen zu lassen, woraus neue Bedeutungsspielräume entstehen können.

Neuer Blick auf historische Orte

Ein Ausstellungsort ist beispielsweise der Justizpalast, der Sitz des Justizministeriums und des Landgerichts. Im Weiße Rose Saal, dem Gerichtssaal der Verhandlungen und Verurteilung von Mitgliedern der Widerstandsbewegung Weiße Rose, ist das Multiple Rose für Direkte Demokratie (1973) ausgestellt - Eine einzelne rote Rose in einem Glasmesszylinder.
"An diesem Ort steht ein Strauß von [...] dreizehn weißen Rosen für die Mitglieder der Weißen Rose und es steht eine rote Rose von Joseph Beuys. Und das für mich beeindruckende ist, dass Sophie Scholl und Joseph Beuys innerhalb von vier Tagen geboren sind. Die haben beide ihren 100. Geburtstag und sind beide im gewissen Sinne Ikonen ihrer Zeit. Sophie Scholl als die Person, auf die man in der deutschen Geschichte stolz sein kann. Und Joseph Beuys als einen großen Veränderer der Kunst." - Christian von Sydow
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Beuys is back in town

Generell war die Betonung der verschiedenen Lebensbereiche einer multikulturellen, globalisierten Gesellschaft ein Ziel für "Ich strahle aus. 100 Jahre Joseph Beuys". Die sieben Ausstellungsorte der Stadt sind jeweils auch verschiedene Orte der Begegnung, in denen Menschen in irgendeiner Form miteinander interagieren. An den ausgewählten Orten, wie zum Beispiel dem Justizpalast, kommen Menschen eher unverhofft mit den Werken von Beuys in Berührung, anders als in einem Museum, in das man extra geht, um sich ein Werk anzusehen. Die Werke sind ihrem Publikum so in gewisser Weise auch schonungslos ausgesetzt. Wer normalerweise ein Museum für moderne Kunst betritt, bringt natürlich ein gewisses Mindset ("okay, ich schau mir jetzt Kunst an") oder ein bisschen Interesse für das Thema mit. Wenn du aber ganz unverhofft über ein Multiple von Beuys in einem Kino in München stolperst und du gedanklich eigentlich nur bei dem Streifen warst, der gleich über die Leinwand flimmert, wirst du das Ausstellungsstück ganz anders wahrnehmen. So entstehen neue Gespräche und Gedanken bei jedem*r Einzelnem*r und in der Gesellschaft.

Aus diesem Grund bezeichnen Tatjana und Christian "Ich strahle aus. 100 Jahre Joseph Beuys" auch bewusst nicht als Ausstellung.

"Bei einer Ausstellung denkt man eben in erster Linie daran, dass man ein Bild erlebt, dass man sich an einer Ästhetik ergötzt, dass man etwas anschaut. Aber es soll bei Beuys - oder das war sein Anspruch - nie bei diesem Anschauen [bleiben]. Sondern dass es zu einer Reflexion, zu einem Nachdenken, vielleicht auch zu einer Emotion, vielleicht auch zu einer regelrechten Verärgerung oder Provokation führt und darüber hinaus dann eben diese tiefergehende Auseinandersetzung, die man dann auch im Dialog mit einem Gegenüber erleben kann." - Tatjana Schaefer

...und plötzlich: Kunst!

Ein weiteres Multiple von Beuys, das über die drei Monate der Ausstellung gezeigt wird, ist die Capri-Batterie (1985), eine Glühbirne, die in einer Zitrone steckt.
"Und diese paradoxe Verbindung, wo man eben sagt 'Wie kann der Saft einer Zitrone eine Glühbirne zum Leuchten bringen?' Die passt eben heute ganz gut zu der Start-up-Szene, die ja auch die leuchtende Glühbirne als Sinnbild für eine super Idee, aber eben auch diese vielleicht absurde Sache braucht. Also überhaupt diesen utopischen visionären Gedanken, den eine Zitrone verkörpert - das man aus zwei Sachen, die nicht zusammenpassen, wirklich etwas Neues schafft und damit auch die Gesellschaft nach vorne bringt." - Tatjana Schaefer
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Auch wenn die Ausstellung so konzipiert ist, dass Menschen sich eher zufällig mit der Kunst auseinandersetzen (müssen), kannst du dir aber auch alle Exponate nacheinander anschauen:
"[Es ist] eine Route, die man beschreitet. Wenn man alle sieben Objekte nacheinander abläuft, dann erarbeitet man sich an verschiedenen Stellen in der Stadt die verschiedenen Objekte. Das hat so was wie von einer kleinen Pilgertour. Und es ist einfach toll, wenn man sich Kunst [...] erarbeitet durch einen Gang auf der Route."- Christian von Sydow

Wo genau du in München die Multiples von "Ich strahle aus. 100 Jahre Joseph Beuys" entdecken kannst, kannst du hier auf der Karte sehen.

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