Mehr Cancel Culture, bitte!

Mehr Cancel Culture, bitte!

Dr. Karsten Schubert im Interview mit egoFM Elise

Ein Begriff, der in den letzten Jahren immer öfter in den Medien fällt und über den kontrovers diskutiert wird: Cancel Culture. Aber was ist das genau und wieso brauchen wir sie als Gesellschaft sogar?

Was ist Cancel Culture überhaupt?

Cancel Culture beschreibt den Boykott oder das Fallenlassen einer oftmals öffentlichen Person, die sich beispielweise diskriminierend oder zumindest kontrovers geäußert hat.

Klingt eigentlich plausibel, steht aber auch in der Kritik. So sehen Gegner*innen der Cancel Culture in ihr eine Gefährdung der Meinungsfreiheit: Debatten würden eingeschränkt, weil Menschen Angst gemacht wird, sich öffentlich zu bestimmten Themen zu äußern, lautet der Vorwurf.
"Mehr Cancel Culture, bitte" sagt hingegen Dr. Karsten Schubert, von der Universität Freiburg, geschäftsführender Assistent an der Professur für Politische Philosophie, Theorie und Ideengeschichte. Mit ihm hat Moderatorin Elise ausführlich über diese progressive Form der Gesellschaftskritik im Interview gesprochen.
  • Dr. Karsten Schubert über Cancel Culture
    Das komplette Interview mit Elise
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Bildquelle: Dr. Karsten Schubert

Mittlerweile das Gegenteil vom eigentlichen Sinn?

Entgegen der eigentlichen Definition merkt Dr. Karsten Schubert direkt an, die Cancel Culture sei zu einem konservativen Kampfbegriff mutiert und mittlerweile ein strategisches Instrument, das progressive Normen, die darauf zielen, beispielsweise Sexismus, Rassismus oder Homophobie einzuschränken, kritisiert. Damit sei Cancel Culture zum Gegenteil von dem geworden, was eigentlich ihr Sinn ist:

"Die Grundfunktion dieses Begriffs als ein Kampfbegriff ist eine Umkehrung. Und zwar werden progressive Normen, die Rassismus, Sexismus und Homophobie kritisieren - was eigentlich die Freiheit für alle erhöht - die werden durch diesen Begriff der Cancel Culture als eine allgemeine Beschränkung individueller Freiheitsrechte dargestellt. [...] Und das dient letztlich dem konservativen Anliegen, nicht mehr so viel über die Diskriminierung zu sprechen und dadurch ein wenig die eigenen Privilegien ein Stück weit zu bewahren, die ja auch in Gefahr sind, abgebaut zu werden, wenn mehr über die Diskriminierung gesprochen wird."  - Dr. Karsten Schubert

Eigentlich soll Cancel Culture die Gesellschaft voranbringen

Neu ist das Prinzip an sich natürlich nicht, die Regulierung von öffentlichen Räumen durch Regeln und Normen gab es schon immer. Solche Kritik ist immerhin auch nötig, um unsere Gesellschaft insgesamt etwas gerechter zu gestalten. Denn wenn neue Regeln eingezogen werden - also beispielsweise antisemitische "Witze" bestimmter Comedians tatsächlich Konsequenzen haben und nicht einfach ignoriert oder gar beklatscht werden - dann ist das ein Zeichen von gesellschaftlichem Fortschritt und zwar durch Gesellschaftskritik. Laut Dr. Karsten Schubert werden dadurch nämlich Privilegiensysteme, durch die viele Menschen diskriminiert werden, aufgebrochen und Zugangschancen gerechter verteilt. Diesen Prozess kann man als Demokratisierung bezeichnen, sagt Dr. Karsten Schubert, was er unter anderem in seinem Text "Demokratisierung durch Cancel Culture" näher ausführt.

Es geht also eigentlich gar nicht um das vollumfängliche Canceln von einzelnen Menschen, sondern um eine Neuverteilung von Zugangschancen.

Immerhin gibt es nur wenige Fälle von komplettem Canceln, also dass Personen wirklich keine Aufträge mehr bekommen oder auch gar keine Chance haben, in der Öffentlichkeit darüber zu sprechen, dass sie - vermeintlich - gecancelt wurden - was übrigens ein "performativer Widerspruch" sei, wie es Dr. Karsten Schubert ausdrückt. Cancel Culture hat nach ihm einen sehr guten Zweck:

"Je öffentlicher und exponierter man ist und das heißt auch, je mehr Machtressourcen man hat, desto höher sind auch die Maßstäbe und desto angemessener - muss ich sagen - ist auch der Wunsch nach einer Korrektur, wenn es Fehlverhalten gibt. Weil es für unsere Selbstverständigung wichtig ist, wie solche sichtbaren und machtvollen Positionen ausgestaltet werden. Und das hängt nämlich zusammen mit der Repräsentationsfunktion von öffentlichen Personen, die sind ja besonders exponiert." - Dr. Karsten Schubert

Einschränkung der Meinungsfreiheit?

Diese Kritik an der Cancel Culture wird in der Debatte auch als "Chilling Effect", also als Abkühlung des öffentlichen Gesprächs, bezeichnet.

Dabei muss man beachten, dass diese Beurteilung oder gar Angst aus einer privilegierten Position heraus formuliert wird. Dr. Karsten Schubert beschreibt das ganz einfach: Als Mann, der gerne mal sexistische Witze macht, kann es natürlich wie eine "Abkühlung des Diskursklimas" wirken, wenn man sich heutzutage schlichtweg darauf konzentrieren muss, genau das nicht mehr zu tun und sich damit quasi "auf die Zunge beißen muss". Als Frau in einem sexistischen Umfeld hingegen waren jene "Witze" jedoch das, was ihr die Teilhabe, den Zugang an der Diskussion verwehrt hat. Aus dieser Position heraus war der Diskurs durch diskriminierende Kommentare also schon vorher "kühl".

"Es ist also notwendig für den gesellschaftlichen Fortschritt, dass wir alle mehr damit konfrontiert werden, wie wir in manchen Beziehungen privilegiert und Teil von Diskriminierungssystemen sind. Und es ist total klar: Das ist unangenehm, aber es gehört auch dazu, um mehr Gerechtigkeit für diejenigen herzustellen, die immer noch diskriminiert werden in unserer Gesellschaft." - Dr. Karsten Schubert



Gibt es Knigge beim Canceln?

Natürlich sollte man stets auf ein respektvolles Miteinander achten, auch beim Canceln. Schaut man sich diverse Shitstorms aber an, wird es öfter mal arg harsch durch persönliche Beleidigungen, die eigentlich nicht wirklich etwas mit dem eigentlichen Problem zu tun haben, und damit destruktiv. Uncool - man sollte schon beim Thema bleiben und den Sinn der Cancel Culture vor Augen haben. Nämlich einen Fortschritt der Gesellschaft und das klappt eben nur, wenn das Problem im Vordergrund steht.

Gleichzeitig merkt Dr. Karsten Schubert an, dass in diesem Diskurs, in dem die Cancel Culture einem rüden Umgang miteinander bezichtigt wird, immer wieder auch der Begriff "Tone Policing" ins Spiel kommt.

Was ist Tone Policing?

"Tone Policing" ist eine Abwehrstrategie, bei der Kritik als viel zu ruppig bezeichnet und deswegen kategorisch nicht ernst genommen wird - um so den Diskurs einzudämmen. Das wiederum ist kontraproduktiv und wirkt dem Zweck entgegen.



Fazit

  • Cancel Culture ist eigentlich etwas Gutes und bringt uns als Gesellschaft voran
  • Es geht bei Cancel Culture weniger um einzelne Menschen, als um das Durchsetzen neuer Normen, die einen respektvollen, antidiskriminierenden Umgang unter den Menschen regeln sollen
  • Um als Gesellschaft voranzukommen, müssen wir alle unsere Privilegien hinterfragen und Missstände öffentlich benennen
  • Der Begriff Cancel Culture wird gerade von Konservativen entgegen ihres Sinns verwendet, um ihrem eigenen Zweck zu dienen - nämlich das Überleben veralteter, gesellschaftlicher Normen und diskriminierender Privilegien
  • Neben der falschen Verwendung des Begriffs Cancel Culture benutzen Konservative zudem Instrumente wie Tone Policing, um den Diskurs zu unterbinden

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