Wie sich ADHS äußern kann und wo Menschen mit Verdacht darauf Hilfe finden können.
Comedian Felix Lobrecht, Moderatorin Sarah Kuttner oder Sängerin SZA haben mindestens zwei Sachen gemeinsam: Sie stehen alle im Rampenlicht. Und sie haben ADHS. Allerdings sollte bei diesen zwei Infos nicht die Verbindung zwischen einzigartigem Talent und der Störung im Vordergrund stehen. Sondern die Tatsache, dass sie zu den Menschen gehören, bei denen ADHS erst im Erwachsenenalter festgestellt wurde. Fälle wie diese - sie häufen sich in den letzten Jahren - zeigen, wie wichtig eine ordentliche ADHS-Aufklärung ist. Denn um ADHS spuken viele Verallgemeinerungen und fehlleitende Vorurteile.
Störung oder Neurodivergenz, aber keine Krankheit!
Kurz zum Begriff: Offiziell ist ADHS die Abkürzung für Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung. Störung ist also der fachlich richtige Begriff. Viele Betroffene bezeichnen ADHS aber lieber als Neurodivergenz. Das bedeutet, das Gehirn ist anders gepolt und die Gehirnfunktionen weichen von dem ab, was die Gesellschaft als "normal" oder neurotypisch definiert. Was Betroffene ablehnen, ist, ADHS als Krankheit zu bezeichnen. Denn einerseits ist es keine Krankheit, andererseits geht damit einher, dass ADHS irgendwann kommt, dann wieder verschwindet oder auch heilbar ist. Beides stimmt nicht, denn ADHS ist hauptsächlich genetisch verursacht und nicht heil-, aber therapier- und behandelbar.
Lisa Vogel spricht auf Instagram über ADHS
"ADHS, das haben doch nur kleine Jungs, das verwächst sich schon" - dieses Vorurteil hat sich ganz schön lang gehalten, stimmt aber nicht. Denn Tatsache ist: Auch Mädchen und Frauen haben ADHS. Und etwa 2,5 Millionen Erwachsene in Deutschland, so wie Lisa Vogel zum Beispiel. Der Unterschied: Die Symptome wirken sich oft anders aus.
ADHS im Erwachsenenalter
So wirkt sich die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung bei Erwachsenen aus
Lisa Vogel im Interview
Das komplette Gespräch zum Anhören
ADHS: Im Grunde genommen eine Stoffwechselstörung im Gehirn
Typisch für ADHS sind Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulsivität. Bei Erwachsenen verursacht Hyperaktivität aber zum Beispiel oft innere Unruhe statt Bewegungsdrang wie bei Kindern. Und bei Mädchen und Frauen können die Symptome nochmal anders aussehen - deshalb werden sie auch nach wie vor seltener oder später diagnostiziert, so eben auch bei Lisa. Und genau das ist das Problem.
"Wenn man jahrelang undiagnostiziert durch die Gegend läuft und immer nur im Prinzip das Gefühl bekommt, man ist falsch, dann setzt sich eben darauf gerne auch nochmal eine Depression, Angststörung und das überdeckt dann auch die Symptome. Und so passiert es dann eben wie bei mir, dass man viele, viele Jahre lang auf Depressionen behandelt wird und man aber das Gefühl hat, es wird aber nicht besser. Natürlich, weil der Kern der Sache eben nicht angegangen wird." - Lisa Vogel
Die Wartezeit ist lang - doch eine Diagnose wichtig
Auch wenn Betroffene manchmal ein Jahr lang auf einen Diagnostik-Termin warten müssen, findet Lisa eine Diagnose ziemlich wichtig. Ob für Medikamente, zielgerichtete Psycho- oder Ergotherapie oder auch einfach die Gewissheit. Auf ihrem Instagram-Account @the.unnormal.brain erzählt Lisa davon und räumt mit Vorurteilen auf.
Sie spricht zum Beispiel auch über die positiven Eigenschaften von Menschen mit ADHS:
"Ich bin zum Beispiel total kreativ, was so Problemlösung von anderen angeht. Wenn man mit einem Problem zu mir kommt, dann kann ich dir sofort fünf verschiedene Strategien sagen, wie du das jetzt vielleicht angehen könntest, wahrscheinlich ist das dann nur viel zu viel. Was wir alle glaube ich ein bisschen gemeinsam haben ist ein total krasser Gerechtigkeitssinn und auch eine extreme Empathie." - Lisa Vogel
Hinter ADHS steckt dennoch keine Superkraft
Manche glorifizieren bestimmte Eigenschaften auch als Superkraft - zum Beispiel den Hyperfokus, durch den sich Menschen ganz lange auf eine bestimmte Sache konzentrieren. Klingt erstmal gut, wirkt sich in der Realität aber anders aus, erzählt Lisa, denn worauf der Fokus liegt, kann sie sich nicht aussuchen.
"Mein letzter Hyperfokus war Brotbacken und ich möchte [...] auch nur über Brotbacken reden, ich möchte nur Brot essen und ich achte gar nicht auf mich, sondern ich möchte wirklich nur aufs Brotbacken irgendwie mich fokussieren. Und deswegen ist das gar nicht immer so ein angenehmer Zustand. Weil ich hab dann kein Bock auf meine normale Arbeit, also ich bin dann nicht super produktiv in meiner normalen Arbeit, sondern halt nur, wenn es um dieses eine Thema geht." - Lisa Vogel
Für Betroffene ist wichtig zu erkennen: Du bist nicht allein
Das ist Lisa besonders wichtig:
"Was ich einfach zeigen möchte ist, wie eine Person aussieht, die ADHS hat, dass Leute sich da auch identifizieren können und dass Leute eine Gemeinschaft finden, wo man sagen kann: 'Ich kann hier ganz, ganz offen über meine Probleme reden, ich kann hier ganz, ganz offen so sein, wie ich bin' und alleine dafür ist es das schon total wert." - Lisa Vogel
Die Sache mit den Selbstdiagnosen
Aufklärung mit Fakten und Erzählungen aus dem Alltag, so wie Lisa sie als Betroffene selbst betreibt, ist unglaublich wichtig. Allerdings ist Content à la "wenn diese Dinge auf dich zutreffen, hast du vielleicht ADHS" in den letzten Jahren auf Social Media zu einer großen Sache geworden. Wobei man sich schon auch fragen darf: Wo ist das Problem? Wäre es wirklich so schlimm, wenn Menschen durch Social Media-Inhalte fälschlicherweise zu dem Schluss kommen, sie hätten ADHS, obwohl dem nicht so ist? Skills und Tipps und vor allem das Gefühl, in einer Community zu sein, kann schließlich allen helfen.
Doch bevor wir nun wieder den Fehler machen, ein schlagfertiges, durchaus valides TikTok unreflektiert als Maßstab aller Dinge zu nehmen: Es steckt mehr dahinter. Das Ganze ist umstritten - und nicht ungefährlich.
Social Media hilft vielen Betroffenen
Es ist auf jeden Fall positiv, dass sich viele Menschen durch Videos oder Postings verstanden fühlen und auch sich selbst besser verstehen können. Oftmals setzen sich Menschen durch Social Media erstmals mit Problemen, die sie irgendwie schon ihr ganzes Leben mit sich getragen, aber nie wirklich verstanden haben, auseinander und machen sich dadurch erst auf die Suche nach Hilfe. Andere Menschen zu sehen, die ähnliche Probleme haben, kann zudem super bestärkend sein und dazu führen, dass sich Menschen vernetzen, die vorher stets alleine gelitten haben. Außerdem führt Öffentlichkeit dazu, dass ADHS (oder psychische Krankheiten) enttabuisiert und Vorurteile abgebaut werden. Auch das ist enorm wichtig.
Ein Verdacht kann zudem auch ein erster wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer Fachdiagnose sein
Was nicht heißen soll, dass nicht auch Menschen ohne gesicherte Diagnose unterstützt und ernstgenommen werden sollen. Schließlich ist nicht jede Person in der Situation, in der sie die Mittel und Wege für eine Diagnose hat, zumal es außerdem auch oft nicht leicht ist, zeitnah an eine Diagnose zu kommen. Allerdings kann eine gesicherte Fachdiagnose nicht nur erleichternd für Betroffene wirken, sondern im Idealfall auch für optimale Hilfe sorgen. Sei es durch Therapie oder Medikation.
Allerdings darf man psychologische Inhalte auf Social Media nicht unkritisch konsumieren
ADHS ist eine komplexe Störung. Besonders erfolgreiche Social Media-Inhalte allerdings sind meist zwar niedrigschwellig, dadurch aber oft auch stark verkürzt und ohne ausreichende Einordnung. Die Qualität kann extrem variieren und nicht immer werden seriöse Fakten und Quellen hinzugezogen. Stattdessen werden individuelle Probleme oft einfach als Kriterien für einen Verdachtsfall dargestellt.
Der Algorithmus zieht die User*innen zudem in ein Rabbit Hole
Einmal angesehen, kann der Algorithmus außerdem dazu führen, dass immer wieder Inhalte vorgeschlagen werden, denen es an Substanz und Kontext fehlt. Auf ein "Ich wusste nicht, dass sich ADHS so äußert"-Video folgen schnell viele weitere dieser Art.
Dies führt zu Verallgemeinerungen, wie sich ADHS äußert
Es ist unglaublich wichtig zu verstehen: Es kann sein, dass jemand mit ADHS oft zu spät kommt, aber wer oft zu spät kommt, hat nicht zwangsläufig ADHS - das kann auch einen ganz anderen Hintergrund haben. Genauso wenig muss es sein, dass man von ADHS betroffen ist, wenn man ungern aufräumt, nicht gut zuhören kann, schusselig ist oder keine Lust auf die Steuererklärung hat.
Gleichzeitig findet auf Social Media eine Überromantisierung statt
Eine Sache haben wir bereits dank Lisas Interview erläutert - den Hyperfokus. Aber nochmal, weil es wichtig ist: Den Hyperfokus kann man nicht steuern. Er ist komplett willkürlich und tritt dabei auch gerne mal ein, wenn es eher ungünstig ist. Auch die Ideenvielfalt und merkwürdige, aber letztlich gewinnbringende, Assoziationsketten, die bei ADHS auftreten können, werden gerne mal märchenhaft dargestellt. Anstatt um den Kopf flatternde Gedankenspatzen können sich die jedoch für Betroffene eher anfühlen wie die Wucht einer Vielzahl enormer Vögel, die ihre Flügel im Hirn umherschmettern - dadurch ist es zunächst schwer, auch nur ansatzweise einen klaren Gedanken zu fassen. Hinzu kommt die Sache mit der Empathie, die Lisa angesprochen hat: Die ist natürlich schön und positiv, bringt beispielsweise in Freundschaften aber auch eher wenig, wenn man vielleicht generell Probleme hat, mit anderen regelmäßigen Kontakt aufrecht zu halten oder in Diskussionen regelmäßig von Null auf 100 aufbraust.
Natürlich muss auch hier gesagt werden, dass sich nicht jedes ADHS genau so auswirkt und es starke Unterschiede in der Intensität gibt. Allerdings kann sich die ausgeschmückte Darstellung vermeintlich positiver Effekte von ADHS für Betroffene geradezu wie Hohn anfühlen, wenn es eben nicht ganz so magisch wirkt oder wie eine Superkraft anfühlt.
Die Verbreitung falscher Informationen hat negative Auswirkungen für Betroffene
Durch die gefühlt endlose Flut an (Selbst)Diagnose-Videos und -Posts kann es außerdem passieren, dass das Krankheitsbild immer mehr verwaschen wird und Betroffene nicht mehr ernstgenommen werden. Hinzukommt, dass eine zunehmende Kommerzialisierung von Krankheiten beobachtet werden kann - das gilt nicht nur für ADHS, sondern beispielsweise auch für Depressionen, Angststörungen oder Autismus. Das wiederum führt nicht nur zur Verbreitung von Verallgemeinerungen, sondern kann ernsthafte Engpässen in der Medikamentenversorgung bestärken, wie sie Betroffene derzeit sowieso schon überall zu spüren bekommen.
Der Umgang auf Social Media ist also ein schmaler Grat
Ob es um ADHS, Depression, Burnout oder sonstige psychische Erkrankungen und Störungen geht: Eine zugängliche und verständliche Aufklärung über psychische Krankheiten ist wichtig, sollte aber von Creator*innen immer behutsam angegangen und vor allem aber auch von User*innen nicht unreflektiert aufgenommen werden.
Wenn du den Verdacht auf ADHS hast...
...informierst du dich am besten neben Inhalten von Betroffenen auch zusätzlich auf seriösen Webseiten mit faktenbasierten Informationen. Diese findest du beispielsweise beim ADHS-Infoportal, das vom Bundesministerium für Gesundheit finanziell gefördert wird.
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