WE

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Für viele Alben, die 2021 und 2022 veröffentlicht wurden, ist es fast schon ein Klischee: ein vollendetes Werk, das Themen wie Isolation, Verzweiflung und Fatalismus perfekt zum Ausdruck bringt – nur um dann zu enthüllen, dass diese Songs bereits vor der Pandemie geschrieben wurden. „Es war doch schon irgendwie alles in der Welt“, sagt Win Butler von Arcade Fire gegenüber Zane Lowe von Apple Music. „Um Musik zu schreiben, muss man eine Antenne haben, die kleine Signale aus der Zukunft und aus der Vergangenheit empfängt. Am Ende glaube ich, dass wir oft nur die Nachbeben von Ereignissen erleben, die bald passieren werden.“„WE“ besteht aus zehn Tracks, im Grunde sind es aber eher fünf Songs, wenn man die verschiedenen Teile und Kapitel berücksichtigt, die dem Album seinen epischen Umfang verleihen. Es ist ein bisschen wie die Freude im Angesicht der Gefahr, die ihr gefeiertes Debüt „Funeral“ aus dem Jahr 2004 ausstrahlte, nur dass das Risiko diesmal ein wenig größer ist. Die Songs, die Butler und seine Frau Régine Chassagne vor März 2020 in ihrem Hinterhofstudio in New Orleans aufgenommen haben, bilden eine Geschichte, die in einem Zustand der Verzweiflung beginnt und an einem außergewöhnlichen Ort der Hoffnung und des Optimismus endet – mit all der Überschwänglichkeit, die die unvergesslichen Songs der Band auszeichnet. Wie alle Arcade Fire-Alben ist auch „WE“ ein Familienprojekt, auf dem nicht nur Butler, Chassagne und Butlers jüngerer Bruder Will – der die Gruppe inzwischen freundschaftlich verlassen hat – zu hören sind, sondern auch Butlers Mutter, eine Harfenspielerin, sowie Peter Gabriel als Gastsänger. Lies weiter, denn hier erläutert Butler ein paar entscheidende Momente von „WE“.„End of The Empire I-III“Es ist leicht, alles als Gegenwart zu interpretieren. Vermutlich ist das auch die Wahrheit, doch ich glaube, das ist eine falsche Fährte. Für mich geht es beim Ende des Imperiums nicht um die Gegenwart, sondern um die Zukunft. Es geht um das, was kommen wird. Ich warte beispielsweise immer noch darauf, dass ich aufwache, auf mein Handy schaue und feststelle, dass der Aktienmarkt endlich zusammengebrochen ist. Ich meine, das ist doch unausweichlich. Diese Dinge passieren so zyklisch und trotzdem drucken wir einfach Geld und tun so, als wäre alles in Ordnung. Mein Großvater hat die Depression miterlebt und war Musiker im Zweiten Weltkrieg. Er hat einiges mitgemacht, aber ich glaube, die heutige Generation ist der Aufgabe auch gewachsen. Wir haben einen achtjährigen Sohn, und die Werkzeuge, auf die er zugreifen kann, sind im Vergleich zu denen, die ich in diesem Alter hatte, unglaublich.„End of the Empire IV (Sagittarius A*)“„End of the Empire“ besteht aus vier Teilen; als wir die ersten drei Teile hatten, waren wir schon bei sechseinhalb Minuten. Aus irgendeinem Grund wusste ich, dass es einen vierten Teil geben würde, denn ich hatte diese Karteikarte, auf der „Sagittarius A“ stand, ein schwarzes Loch in der Mitte unseres Sonnensystems. Ich hatte die Karte an meiner Wand hängen und ging einfach daran vorbei. Sobald ich geimpft war und reisen konnte, fuhr ich mit meinem Sohn zu meinen Eltern, weil ich sie schon lange nicht mehr gesehen hatte. Ich fuhr zurück zu ihrem Haus in Maine und brachte mein 4-Spur-Gerät mit, das ich im Keller ihres Hauses aufstellte und ein paar Kabel bis zum obersten Stockwerk verlegte. Ich fühlte mich, als wäre ich 15. Es war genau der gleiche Kram, den ich mit 15 Jahren gemacht habe. Ich sagte: „Mama, ich arbeite an diesem Song.“ Wir spielten dann zusammen „Sagittarius A*“. Es gab noch ein paar andere Songs, die ich auf 4-Spur-Aufnahmen mit ihr gespielt habe, und das hat mir wiederum geholfen, sie durchzuarbeiten und herauszufinden, wohin es führt.„The Lightning II“Als ich das Stück sang, dachte ich an all die Haitianer, die an der Grenze versuchen, in die USA zu kommen. Sie hatten ein Boot von Haiti nach Brasilien genommen und waren dann zu Fuß oder mit dem Zug bis zur mexikanischen Grenze gelangt. Nur um ein besseres Leben für ihre Familie zu finden – stell dir vor, was das für einen Mut erfordert. Der Gouverneur von Texas kann ehrlich gesagt ... Ich hasse nicht viele Menschen, aber diesen Mistkerl hasse ich. Ich glaube nicht einmal an die Hölle, aber wenn es eine Hölle gibt, dann kommt dieser Drecksack dorthin. Nur um Menschen zu treffen, die absolut kein Mitgefühl haben, diese verdammten Pseudo-Christen. Darum geht es zwar nicht unbedingt in dem Song, aber das war es, was ich im Kopf hatte: Was bedeutet es, nicht aufzugeben und das Ziel zu erreichen und am Ende doch zurückgeschickt zu werden? Doch tatsächlich gibst du auch dann nicht auf, weil du immer noch deine Familie hast, also wirst du dorthin zurückgeschickt, wo du angefangen hast. Du wirst niemals aufgeben, weil es immer noch dein Leben und deine Familie ist und du immer wieder ums Überleben kämpfst.„Unconditional I (Lookout Kid)“Ich habe über meinen Sohn nachgedacht und über die Welt, die ihm bevorsteht, und darüber, dass ich ein sehr deprimiertes Kind war, besonders in der Highschool. Ich habe versucht, mir vorzustellen, wie ich in meiner Art, also rein neurochemisch gesehen, jetzt damit umgehen muss, ganz zu schweigen davon, womit er in den nächsten zehn Jahren zu tun haben wird. Er muss ein dickes Fell haben und wirklich in der Lage sein, einstecken zu können und Stärke zu zeigen. Dabei geht es auch um die Idee der bedingungslosen Liebe, die unmöglich zu erreichen ist. Und doch tun wir es irgendwie von Natur aus mit unseren Kindern. Nur glaube ich, dass wir auch mit denen so umgehen sollten, mit denen wir nicht verwandt sind.„WE“Die erste Hälfte des Albums ist eine Reise, würde ich sagen. Stell dir vor, die Figur sagt: „Holt mich hier raus, holt mich von diesem Planeten, holt mich aus meiner eigenen Haut, holt mich von mir selbst weg. Ich will nicht hier sein.“ Es ist Angst, Depression und Schwere, die Last der Welt. Und er schaut auf dieses schwarze Loch und denkt: „Wenn ich durch dieses schwarze Loch gehen könnte, wäre ich vielleicht weit genug weg.“ Und als er dort ankommt, stellt er fest, dass es doch um ihn selbst geht und um jeden, den er jemals geliebt hat, und um das Leben seiner Vorfahren. Du kannst nicht entkommen, denn am Ende ist sowieso alles dasselbe. Geschichten und Filme wollen immer auf dieses eine große Ende hinaus, gefolgt von dem Abspann. Ich habe dabei eher folgendes Gefühl: „Lass es uns einfach noch einmal machen, mit all dem Leid, der Einsamkeit, der Traurigkeit und dem Kummer. Ich will es einfach immer und immer wieder tun.“

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