Wer war May Ayim?

Wer war May Ayim?

Schriftstellerin, Dichterin und Aktivistin

May Ayim wurde gesagt, in Deutschland gäbe es keinen Rassismus - das hat damals genauso wenig gestimmt wie heute, weswegen ihre Werke kein Stück an Bedeutung verloren haben.


Ikone der afro-deutschen Literatur

May Ayim wurde am 3. Mai 1960 als Sylvia Andler in Hamburg geboren. Ihre Eltern, der ghanaische Medizinstudent Emmanuel Ayim und die weiße Ursula Andler, waren nicht verheiratet und ihr Vater durfte sie aus rechtlichen Gründen nicht mit nach Ghana nehmen, heißt es. Da ihre Mutter sie zur Adoption freigab, wuchs sie nach eineinhalb Jahren im Kinderheim bei der Adoptivfamilie Opitz in Münster auf, was eine äußerst traumatische Erfahrung für May gewesen sein soll: Ihr Leben dort war von Angst und Gewalt geprägt, da ihre Adoptiveltern sie zu einem Vorzeige-Kind erziehen wollten. Sie sollte bloß nicht auffallen, um vor Rassismus geschützt zu sein, erzählt sie später. Ihr wurde allerdings trotzdem schon früh das Gefühl vermittelt, "anders" zu sein.
"Jahrelang lebte ich mit dem Empfinden, in der deutschen Gesellschaft weder eine Geschichte noch eine Zukunft zu haben, sondern eines Tages auswandern zu müssen. Daß das sehr belastend ist, steht außer Frage. Inzwischen ist mir klar, daß dies keine Einzelerfahrung ist und mein Erleben exemplarisch den Umgang mit einer Bevölkerungsgruppe widerspiegelt, die im Bewußtsein weiter Teile der deutschen Gesellschaft einfach nicht existent ist." - May Ayim in ihrem Buch grenzenlos und unverschämt 

May machte in Münster ihr Abitur und studierte anschließend in Regensburg Pädagogik und Psychologie.

Ihre Diplomarbeit Afro-Deutsche: Ihre Kultur- und Sozialgeschichte auf dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungen veröffentlicht sie 1986 in dem Essay-Band Farbe bekennen - Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte, den sie mit Katharina Oguntoye und Dagmar Schultz herausgegeben hat. Es war eine der ersten akademischen Auseinandersetzungen mit afro-deutscher und Kultur und hat die Lebensrealität afro-deutscher Frauen in den Fokus gerückt und neue Denkanstöße geschaffen. Das Werk ist bis heute ein elementarer Bestandteil der afro-deutschen Literatur und hat May als eine der wichtigsten Stimmen der Bewegung etabliert. 

Im selben Jahr war sie an der Gründung der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) beteiligt und freundete sich mit anderen Aktivist*innen der Schwarzen Frauenbewegung an, so auch mit Audre Lorde. Diese schreibt im Vorwort von Farbe bekennen
"Dieses Buch ist auch als Aufforderung der hier schreibenden Frauen an alle Bürgerinnen und Bürger ihres Landes gedacht, sich einem neuen Aspekt des deutschen Bewusstseins zuzuwenden, über den die meisten weißen Deutschen noch nicht nachgedacht haben. Ihre Worte dokumentieren ihre Weigerung, die Verzweiflung lediglich mit Blindheit oder Stillschweigen abzuwehren. Solange wir unsere Unterdrückung nicht artikulieren, können wir sie nicht bekämpfen. Deshalb: Erhebt euch und schweigt nicht mehr!" - Audre Lorde

Ihr ursprünglicher Betreuer der Uni Regensburg lehnte ihre Arbeit übrigens mit der Begründung ab, es gäbe in Deutschland keinen Rassismus mehr. Schlussendlich nahm eine Prüferin aus Berlin, wo May seit 1984 lebte, ihre Arbeit aber an. 1987 startete May ihre Ausbildung zur Logopädin, 1990 folgte die Examensarbeit Ethnozentrismus und Sexismus in der Sprachtherapie. Sie arbeitete freiberuflich in diesem Bereich und nahm außerdem immer wieder Lehraufträge an und sprach auf verschiedenen Konferenzen. 

Seit 1992 veröffentlichte sie unter dem Nachnamen ihres biologischen Vaters als May Ayim

Sie reiste im Laufe ihres Lebens mehrmals nach Ghana, wo die Familie ihres Vaters lebte, und war außerdem bei ihm in Kenia zu Besuch, wo er mittlerweile als Medizinprofessor arbeitete. Eine enge Beziehung konnten sie zu ihrem Vater aber nicht mehr aufbauen, in Ghana allerdings fand sie ein Gefühl der Zugehörigkeit.

May Ayim: Hoffnung im Herz / Hope In My Heart / Esperança No Coração from Audre Lorde in Berlin on Vimeo.


Die Zeit nach dem Fall der Mauer war für May Ayim geprägt von rassistischen Übergriffen wie der Ermordung von Amadeo Antonio 1990 und den Brandanschlägen auf Asylbewerber*innenheime. Sie spricht deswegen auch immer wieder von der deutschen "Sch-Einheit" und macht auf die rassistischen Taten aufmerksam. Gleichzeitig zwang sie die weißen Rezipient*innen ihrer Texte dazu, sich mit dem eigenen Rassismus und der deutschen Kolonialgeschichte auseinanderzusetzen, so zum Beispiel auch in diesem Gedicht von 1990:

grenzenlos und unverschämt – ein gedicht gegen die deutsche sch-einheit

ich werde trotzdem
afrikanisch
sein
auch wenn ihr
mich gerne
deutsch
haben wollt
und werde trotzdem
deutsch sein
auch wenn euch
meine schwärze
nicht paßt
ich werde
noch einen schritt weitergehen
bis an den äußersten rand
wo meine schwestern sind
wo meine brüder stehen
wo
unsere
FREIHEIT
beginnt
ich werde
noch einen schritt weitergehen und
noch einen schritt
weiter
und wiederkehren
wann
ich will
wenn
ich will
grenzenlos und unverschämt
bleiben

Zu dieser Zeit etablierte sie gemeinsam mit dem ISD den Black History Month in Deutschland.

Nach mehreren Aufenthalten in psychiatrischen Einrichtungen, unter anderem aufgrund von Depression, sowie der Diagnose Multiple Sklerose starb May Ayim am 9. August 1996 im Alter von 36 Jahren durch Suizid.

May Ayim prägte den Begriff afro-deutsch und schaffte mit ihren Werken Sichtbarkeit für Schwarze Menschen in Deutschland und ist bis heute als eine Pionierin der afro-deutschen Literatur bekannt. In ihren Gedichten und Analysen setzte sie sich mit dem Rassismus, der Diskriminierung und dem Gefühl von Heimatlosigkeit auseinander, welche sie als Schwarze Frau in Deutschland tagtäglich erlebte. Neben diesen gesellschaftskritischen Werken schrieb sie außerdem über Alltag, Liebe und Beziehungen und berührt und beeindruckt mit ihrem Gespür für Lyrik noch heute die Leser*innen ihrer Texte.

sehnsucht

gefrorene kristalle
geliebter erinnerungen
nisten in meinen augenhöhlen.
spiegeln mir dein entferntes gesicht
als einen schatten auf mein herz.



Werke von und über May Ayim

  • Farbe Bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte von Katharina Oguntoye, May Opitz/Ayim, Dagmar Schultz (1986)
  • grenzenlos und unverschämt von May Ayim (1987)
  • Entfernte Verbindungen. Rassismus, Antisemitismus, Klassenunterdrückung von Ika Hügel-Marshall, Chris Lange, May Ayim, Ilona Bubeck, Gülsen Aktas, Dagmar Schultz (1999)
  • Gedichtband blues in schwarz weiss (1995) und nacht gesang (1997) von May Ayim
  • Text- und Gedichtsammlung May Ayim. Radikale Dichterin, sanfte Rebellin von Ika Hügel-Marshall, Nivedita Prasad, Dagmar Schultz. Neben unveröffentlichten Werken von May Ayim sind darin Texte von Schwarzen frauen zu finden, die von ihr inspiriert wurden (2021)
  • Sisters and Souls 2 — Inspirationen durch May Ayim von Natasha Kelly. Eine Textsammslung von May Ayim und anderen Autorinnen (2021)

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